Essen. Zu allen Zeiten waren Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, um ihr Leben zu retten. Die Geschichte eines allgegenwärtigen Phänomens.
Die Bilder dieser Tage sind erschütternd. Millionen Menschen, meist Frauen, fliehen vor dem Krieg in der Ukraine mit nichts als Kind und Koffer. Menschen, die alles verloren haben: Ihr Heim, ihre Besitztümer, oft ihre geliebten Verwandten. Ihre Heimat. Menschen, denen nur ihre nackte Existenz geblieben ist. Was sie mit sich bringen, sind Traumata und die Angst vor einer äußerst ungewissen Zukunft.
Mehr als drei Millionen Menschen sind seit dem 24. Februar aus der Ukraine geflohen, mindestens 187.000 von ihnen nach Deutschland. Täglich kommen mehr Menschen hinzu.
Man muss nicht weit zurückblicken, um sich an ähnliche Schicksale zu erinnern. Das Jahr 2015 ist noch präsent genug, als Millionen von Syrern und Libanesen aus ihren Ländern flohen. Übers Mittelmeer, wo viele von ihnen ertranken. Über die Balkan-Route, wo ihnen andere Lebensgefahren drohten. Und dies ist nur eine Momentaufnahme.
Flucht ist allgegenwärtig. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Vertreibung und Flucht. Man kann in kein Jahrhundert, kein Jahrzehnt blicken, ohne auf Flüchtende zu treffen.
Auch ein deutsches Schicksal
Gerade hierzulande sollte großes Bewusstsein für die existenzielle Not der Menschen herrschen, die versuchen, sich vor lebensbedrohlichen Konflikten zu retten: „In Europa ist kaum eine Gesellschaft so sehr von Flucht und Heimatverlust geprägt worden wie die deutsche. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen 14 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene, später über 4 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler. Zusätzlich gab es Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, die in den Westen kamen“, sagt Historiker und Autor Andreas Kossert, der mit seinem Buch „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte“ einen ausgezeichneten historischen Überblick zum Thema Flucht geschrieben hat (siehe Interview auf dieser Seite).
Und vielleicht waren die Deutschen deshalb vorübergehend so mitfühlend – und sind es jetzt wieder: „Es lässt sich nicht empirisch beweisen, aber ich glaube, dass die besondere Empathie in Deutschland 2015, diese kurzzeitige Willkommenskultur, auch durch diese historischen Erfahrungen gefördert wurde. Das ist eine Mutmaßung. Doch oft wurden eigene Erinnerungen wachgerufen: Ja, das kennen wir auch! Oder: Das ist uns doch auch passiert! Andererseits wurde wiederum klar, dass Willkommenskultur leider eher die historische Ausnahme ist“, sagt Kossert.
Doch wo soll man nur beginnen, wenn man die Geschichte der Flucht betrachtet?
Auch wenn sich ein so weites Ausholen bei anderen Themen verbietet: Hier darf und muss man mal bei Adam und Eva anfangen. Denn was soll die Vertreibung der beiden ersten Menschen aus dem Paradies denn anderes sein als eine Geschichte der Flucht? „Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.“ (Genesis 3, 23-24)
Obwohl diese archaische Vertreibung durch einen zürnenden Gott in erster Linie metaphorisch gemeint sein dürfte, wenn der Allmächtige den Menschen ohne Aussicht auf Rückkehr in seine elende Existenz wirft, so zeigt sie doch, dass ihr Autor die Erfahrung von Flucht verinnerlicht hatte. Und sie als Erklärung für ein Leben in nicht-paradiesischen Zuständen verantwortlich machte.
Die Bibel an sich ist bei genauerem Hinsehen so randvoll mit Fluchten, fast erhält man den Eindruck, dass es kein anderes großes Thema im Alten Testament gab: So etwa der Auszug aus Ägypten (Exodus 1-15), bei dem Moses das Meer teilte, um das Volk Israel aus der Sklaverei zu führen und vor der Verfolgung durch den ägyptischen Pharao und seine Soldaten in Sicherheit zu bringen.
Die rettende Arche
Auch die Geschichte von Noah und seiner Arche (Genesis 6-9) ist nichts anderes als die Erzählung einer Flucht, wenn auch in diesem Fall vor einer angekündigten Naturkatastrophe, der Sintflut. Und so kann Noah nur das Nötigste in seine Arche laden, seine Familie und von jeder Tierart zwei Exemplare.
Das Alte Testament ist voll von solchen Erfahrungen. Und wie könnte es anders sein: Auch Jesus war ein Flüchtling.
König Herodes trachtete dem neugeborenen „König der Juden“ nach dem Leben. Nur gut, dass ein Engel Josef im Traum warnte: „Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.“ (Matthäus 2, 13)
Die Flucht von Jesus wirkt fast wie eine Ausnahmeerscheinung, denn es ist die Flucht eines Einzelnen bzw. einer einzelnen Familie. Dabei verkennt man leicht: Jede Flucht ist die Flucht eines Einzelnen, eines Individuums. Aber öffentlich wahrgenommen werden diese Menschen oft als Flüchtlingswelle oder Flüchtlingsstrom, eben als anonyme Masse. Und jeder von ihnen wird reduziert auf eine einzige Eigenschaft: Flüchtling. Das ist falsch für den Umgang mit Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens einer Notsituation entkommen sind und die Mitgefühl verdienen. Falsch für Malek aus Damaskus, der vielleicht daheim ein angesehener Zahnarzt war, und falsch für Natalia aus Kiew, die dort vielleicht als Uni-Professorin lehrte.
Es offenbart allerdings auch die Hilflosigkeit einer Gesellschaft mit jenen, die durch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 geschützt sein sollten.
Wer einmal während der letzten sieben Jahre von Calais nach Dover übersetzen wollte, bekam es im Fährhafen eindringlich vor Augen geführt: Was einst eher wie ein Ort wirkte, von dem aus man lustig auf eine Nordseeinsel schippern konnte, ist heute eine stacheldrahtbewehrte Festung mit bewaffneten Grenzpolizisten. Daran sieht man auch, wie groß bei den Briten der Wunsch ist, sich vor unerwünschter Migration zu schützen. Und wer 2015/16 die Zeltstadt vor dieser Festung sah, „Dschungel von Calais“ genannt, der weiß, wie viele trotz dieser unwürdigen Umstände im Lager den Wunsch hatten, dorthin auf die grüne Insel zu gelangen, in ein hoffentlich besseres Leben – und was sie alles an Leid und Entbehrungen auf sich nahmen, um diesen Wunsch wahr zu machen…
Das ganze Leid konnte man miterleben entlang einer der meistbenutzten Transitstrecken mitten in Europa, nicht etwa in den griechischen Flüchtlingslagern Moria oder Kara Tepe, die man nicht ohne Weiteres erreicht – und wo noch schlimmere Zustände herrschten oder immer noch herrschen.
Verfolgung aus religiösen Gründen
Blicken wir zurück in vergangene Zeiten, wobei sich je nach Epoche selbstverständlich blinde Stellen offenbaren: „Viele historische Fluchterfahrungen sind im Dunkel der Geschichte verschwunden“, sagt Historiker Andreas Kossert. Wenn man etwa in die Zeit der Völkerwanderung schaut, stellt man fest, dass sich um das Jahr 400 im Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen vor allem fränkische Volksstämme und die Sachsen ansiedelten, die zuvor wiederum von Völkern aus dem Osten bedrängt oder besser gesagt: vertrieben worden waren.
Immer verursachten Kriege große Fluchtbewegungen, das Mittelalter ist gespickt damit.
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Aber auch aus religiösen Gründen wurden Menschen verjagt, etwa bei den Christenverfolgungen im Römischen Reich im 3. Jahrhundert. Religiöser Fanatismus führte oftmals zu Vertreibungen in gewaltigem Ausmaß, etwa bei den spanischen Juden: 1492, also im Jahr, in dem Christoph Kolumbus Amerika entdeckte, wurden sie aus dem Land getrieben, mindestens 275.000 Menschen mussten sich in Sicherheit bringen.
Auch unter den christlichen Konfessionen herrschten blutige Auseinandersetzungen, wie man an der Verfolgung der Hugenotten in Frankreich im 17. Jahrhundert sehen kann. Ludwig der XIV. hatte im Jahr 1685 das Toleranzedikt von Nantes aufgehoben, weshalb die protestantischen Hugenotten sich nur durch Übertritt zum Katholizismus vor Verfolgung hätten schützen können. Von rund einer Million Hugenotten wollten 200.000 nicht ihren Glauben aufgeben – und mussten außer Landes gehen. Sehr viele von ihnen landeten beim Brandenburgischen Kurfürst Friedrich Wilhelm, der sich von ihnen frische Impulse für sein Land versprach.
Ein Auslöser für eine gewaltige Migrationswelle, die mehr Flucht als Auswanderung war: Die „Große Hungersnot“ in Irland, die in den Jahren 1845 bis 1849 gut eine Million Iren verhungern ließ. Grund war die „Kartoffelpest“, ausgelöst von einem Pilz, der die Ernten zerstörte und den Iren somit ihre Lebensgrundlage nahm. Ein bis zwei Millionen Iren wanderten deshalb in den Folgejahren aus, meist über den Atlantik nach Kanada und in die USA, teils auch nach Australien. Bis 1920 hatten fünf Millionen Iren ihre Heimat verlassen.
Im 20. Jahrhundert, das ja auch „Jahrhundert der Flucht“ genannt wird, folgten die menschlichen Dramen in einem grauenerregenden Takt. Nach dem ersten Weltkrieg flohen 1,5 Millionen Deutsche aus den Polen zugeschlagenen Gebieten meist in die Weimarer Republik. Vor dem Völkermord an den Armeniern 1915/16 flohen hunderttausende aus dem Osmanischen Reich in die Nachbarländer. Und dann begann der Zweite Weltkrieg mit seinen dramatischen Flucht-Folgen, von denen schon eingangs die Rede war.
Aber auch die Teilung Indiens 1947 brachte eine gewaltige religiöse Spaltung mit sich, die fast 15 Millionen Menschen betraf. Rund sieben Millionen Muslime wurden aus Indien nach Pakistan vertrieben, etwa ebenso viele Sikhs verließen zwangsweise Pakistan.
Der Palästina-Krieg trieb Menschen aus ihrer Heimat, der Unabhängigkeitskrieg in Algerien, die Abspaltung Bangladeschs von Pakistan. Unvergessen der Vietnamkrieg mit seinen eindringlichen Bildern, auch von den Boatpeople. Und weiter: Afghanistan, Ruanda, Jugoslawien, Darfur… Es scheint, als würden die Brandherde rund um den Globus nicht weniger.
Die Geschichte – und auch unsere Gegenwart – ist also voll von Fluchten. Aber die Geschichte der Fluchten, so zeigt sich jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist noch lange nicht zu Ende. Vielleicht wird sie sich in Zukunft allerdings verändern.
Experten rechnen heute damit, dass auch die Folgen des Klimawandels und die daraus resultierenden Naturkatastrophen dazu führen, dass noch mehr Menschen aus diesen Gründen ihre Heimat verlassen müssen. Und hoffentlich eine neue Heimat und eine herzliche Aufnahme finden werden.