Marl. Der Glaskasten in Marl zieht um. Vor dem neuen Museumsgebäude gibt es bereits heute eine ungewöhnliche Schaufläche für Skulpturen.
Geisterhaft schimmern die kahlen Bäume durch den Nebel. Menschen aus Kalkstein oder Bronze lassen gebückt die Schultern hängen. Neben ihnen droht ein Fallbeil der Guillotine mit dem Ende des Lebens. Kunst, die das Herz wärmt, sieht anders aus. Die Werke unweit des Marler Skulpturenmuseums Glaskasten lassen aber kein Herz kalt.
Die morbide Stimmung kommt nicht von ungefähr. Der Park ist eigentlich ein Friedhof. Auf einem dunklen Grabstein steht der Name Hildegard Haag geschrieben. 1910 geboren fand sie 83 Jahre später auf diesem Fleckchen Erde ihre letzte Ruhestätte. In der Nähe: Kriegsgräber, die an die Gefallenen erinnern, an Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Zur Zeit des Ersten gab es die Stadt Marl noch nicht. Die Stadtrechte wurden erst 1936 verliehen.
In Marl gibt es rund 100 Skulpturen
Wer Marl nun besucht, wird Zeuge einer Verwandlung, vom Friedhof zum Friedenspark, wie er schon heute heißt. Die Kreuze der Soldatengräber werden auch in Zukunft mahnen, die Skulpturen, die einst den Trauernden zur Seite standen und ihrem Schmerz Ausdruck gaben, werden bleiben. Aber Grabsteine sieht man bereits heute kaum noch, dafür Kunst in einer Stadt, die wie kaum eine andere Ausstellungsfläche ist. „Rund 100 Skulpturen gibt es in Marl“, sagt Georg Elben, Leiter des Glaskastens.
Dazu zählen die Enthauptungsmaschinen, vier stehen in einer Reihe. „Es ist eine stilisierte Form der Guillotine, die während der Französischen Revolution genutzt wurde“, erklärt Elben. Es ging den Revolutionären um Gerechtigkeit, aber das Hinrichten eines Menschen ist und bleibt Unrecht. Der schottische Künstler Ian Hamilton Finlay (1925 - 2006), der auch Lyriker war, gravierte die Fallbeile. Übersetzt steht auf einer dieser Bronzetafeln geschrieben: „Bedrohe mich, wenn du willst. Aber lass den Terror, den du in mir hervorrufst, gemildert sein durch eine große moralische Idee.“
Guillotinen als Rahmen
Der Titel des Werks: „A View To The Temple“. Ursprünglich waren die Mordinstrumente auf der Documenta in Kassel 1987 auf einen kleinen Tempel ausgerichtet. Auch hier bilden die Guillotinen einen hölzernen Rahmen: Wer vor ihnen steht und den Blick durch sie hindurch in die Ferne richtet, erkennt am Ende einen Obelisken. Er erinnert an die 213 Zwangsarbeiter, die in Marl während des Zweiten Weltkriegs gelitten haben.
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Stillstand oder Bewegung? Der Park steht wohl für beides. Und auch Robert Schad hat beides in den Park gebracht: Wie ein riesiges Insekt oder doch ein tanzender Artist – da schlägt die Fantasie Purzelbäume – wirkt die gebogene Stahlstange. Dreht man sich auf dem Absatz um, sieht man das Geschwisterwerk, das fast kerzengerade in den wolkenverhangenen Himmel zeigt.
Hinter der Kunst: das Grimme-Institut
Ähnlich grau ist die „Wand Wegener“. Friedrich Werthmann (1927 - 2018) hat sie 1962 als Sichtschutz für eine Düsseldorfer Familie mit dem Namen Wegener erschaffen. Die Wand war mal Kunst am Bau, nun ist sie Kunst vorm Bau: Hinter diesem Paravent-artigen Werk aus aneinandergeschweißten Metallstücken, die einen hässlichen Zaun verstecken, befindet sich das berühmte Grimme-Institut, das jedes Jahr erstklassige Fernsehsendungen auszeichnet.
Wer Ohren hat, der höre, scheint eine Plastik von Bogomir Ecker zu rufen, ihre Form erinnert an zwei riesige Ohrmuscheln. Oder an die löchrigen Hörmuscheln eines alten Telefonhörers. „Vehoohr“ hat der Künstler das Aluminiumwerk genannt – „ein Kunstwort“, so Elben. Auch wenn es an das niederländische „Vehoor“ erinnert: Verhör.
Eine Eiche mit Ohren
Das Werk hebt sich von den anderen ab: Es hängt hoch oben in den Ästen einer alten Eiche. Und im Gegensatz zu vielen düsteren Skulpturen, die mit dem Nebelgrau zu verschmelzen scheinen, sticht es mit seinem roten Lack als willkommener Farbtupfer heraus. „Aus der Ferne sieht man gar nicht, wie groß es ist“, sagt Georg Elben. Das linke Ohr ist fast zwei Meter lang.
„Der öffentliche Ort ist ein Kampfort der Aufmerksamkeiten geworden“, hat Ecker zu seinem Werk notiert. Dabei dachte er an die irritierenden Stadtbilder, so Elben. Grelles Blinken, blickversperrende Gebäude, ohrenbetäubende Geräusche. „Hier im Park ist das nicht so“, sagt Georg Elben, während das Laub unter seinen Schuhen leise raschelt.
Skulpturen im guten Zustand
Die meisten Werke, die der Kunsthistoriker zeigt, haben kein Moos angesetzt, auch Farbschmierereien sind nicht zu sehen. Elben liegen die Werke im Park genauso am Herzen wie die im Museum: „Skulpturen im Außenraum werden nur akzeptiert, wenn sie in einem guten Zustand sind, gepflegt und sauber.“ Und dazu zähle auch, die Graffitiszene nicht auszugrenzen. In Marl habe sie ihre eigenen Flächen erhalten.
Eigentlich ist der Friedenspark nicht der Garten des Museums, aber er wird es quasi mal werden. Heute kann man bereits den kurzen Weg nehmen, vom Glaskasten im Rathaus, vorbei an dem „Ruhenden Blatt“ – einer Bronzeplastik von Hans Arp – durch den Park, an der ehemaligen Friedhofskapelle entlang zu einem alten Schulgebäude aus den 1960er-Jahren. Es wird ab 2024 das Museum beherbergen.
Eine über sechs Meter hohe Skulptur aus Corten-Stahl steht davor. Franz Bernhard (1934 - 2013) hat diese „Schlanke Büste“ geschaffen: sehr abstrakt, aber mit Kopf, Armen, Beinen, Rumpf. Sie wirkt wie ein Torwächter für den Glaskasten der Zukunft.
Das Skulpturenmuseum Glaskasten am Creiler Platz zeigt bis zum 9. Januar 2022 im und um das Museum die Ausstellung „Blackout“ von Mischa Kuball. Es gelten die 2G-Regeln. Im Museum ist ein Heft erhältlich, in dem 50 Skulpturen in Marl erklärt sind. Sonntags gibt es um 11.30 Uhr geführte Rundgänge zur Kunst im öffentlichen Raum. Eine Übersicht der Werke in der Stadt steht unter skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de