Marl. Rund ums Marler Rathaus mit seinem Skulpturenmuseum Glaskasten und im Skulpturenpark ist die Dichte an hochkarätiger Kunst verblüffend hoch.
Wenn Kunsterlebnis ein Wettlauf wäre, man also unter freiem Himmel in kürzester Zeit ein bedeutendes zeitgenössisches Werk nach dem anderen abzuhaken hätte, dann wäre Marl-City unter den Top-Rennstrecken in Deutschland. Denn rund ums brachial-betonschwere Rathaus mit seinen beiden Dezernatstürmen lässt sich plastische Kunst in einer Dichte erleben, die in deutschen Städten ihresgleichen sucht. Da ist es auch kein Wunder, dass gleich im Rathausgebäude, quasi eine Etage unter dem Sitzungstrakt, das Skulpturenmuseum Glaskasten zu finden ist, dessen Direktor Georg Elben (55) zu jedem Stück in der Stadt etwas zu erzählen hat. Würde man etwas dramatisieren, wie die ganze Kunst nach Marl kam und es in eine reißerische Überschrift packen, stünde über diesem Artikel: „Wie der Heiland den Kunstsegen brachte“.
Denn nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Persönlichkeit, die der Stadt ihren Stempel aufdrückte – und das war Rudolf-Ernst Heiland, der von 1946 bis 1965 Bürgermeister der von Zechen und Chemie dominierten und dank üppiger Steuergelder sehr vermögenden Arbeiterstadt war. Er ließ das seinerzeit extrem moderne Rathaus von den niederländischen Architekten van den Broek und Bakema errichten. „Und für dieses Gebäude ist dann, schon lange bevor man an ein Museum gedacht hat, zur Ausstattung Kunst gekauft worden“, erzählt Elben. Heiland, als Freund der zeitgenössischen Kunst, stellte sich etwa eine echte Lehmbruck-Büste auf seinen Dienstschreibtisch. Tja, wer hat, der hat!
Blumen für Marl
Und er hat schon früh begonnen, Kunst für die Stadt anzuschaffen, etwa die „Nike“ von Bernhard Heiliger (1956). „Das war zeitgenössische Kunst, die kam frisch aus dem Atelier“, berichtet Elben.
Es reicht schon, vors Skulpturenmuseum auf den Creiler Platz zu treten, dort wird überall das Auge erfreut. Sei es mit der stählern glänzenden „Naturmaschine“ (1969) von Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff, bei der sich Würmer durch Würfel zu graben scheinen. Sei es beim Schriftzug „Les Fleurs du Mal“ (2014) von Mischa Kuball, der am Rathaus prangt und mit dem Untertitel „Blumen für Marl“ einen wortspielerischen Bezug von Baudelaires Gedichten zum Standort herstellt.
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Der unangefochtene Popstar unter den Kunstwerken steht auf der Seite des Creiler Platzes, die dem Rathaus gegenüber liegt, vorm Einkaufszentrum Marler Stern: Fast schlicht, aber deshalb so eindringlich ist der bronzen-patinierte Trommelrevolver mit dem doppelt zugeknoteten Lauf, Titel: „Non Violence 1995/99“, den Carl Frederik Reuterswärd schuf. Die Geschichte des Werks begann in der Nacht vom 8. Dezember 1980, als John Lennon („Give Peace A Chance“) erschossen wurde. Er und der schwedische Bildhauer waren befreundet. Damals begann der, solche Waffen zu zeichnen. Heute stehen sie als Zeichen für Frieden und gegen Gewalt.
Mahnmal für die Opfer der Nazis
Von hier aus lässt sich ein kleiner Rundgang um den City-See und durch den Skulpturenpark in ein bis zwei Stunden bei gemütlichem Tempo und mit ein bisschen Zeit für die Kunstbewunderung unternehmen. Und dort begegnet man viel Bewundernswertem. Etwa Hans Arps „Feuille se reposant“ (1959), einer Plastik mit abstrakten Rundungen, die trotz ihres Gewichts ganz leicht wirkt. Sehr realistisch hingegen erscheint Alfred Hrdlickas Büste von Dietrich Bonhoeffer (1977), die ein Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist. Der Theologe und Widerstandskämpfer Bonhoeffer kam ja 1945, einen Monat vor Kriegsende, im Konzentrationslager ums Leben.
Der Weg um den City-See herum führt vorbei am „Grand Orphée“ (Großer Orpheus) (1956) von Ossip Zadkine, der mit seiner Leier den Bogen spannt zwischen griechischer Antike und abstrakter Kunst.
Kein Graffiti auf den Sockeln
Rund um den See reihen sich in schöner Abwechslung moderne und klassische Skulpturen. Wer von dort über den Parkplatz vorm Rathaus in den Skulpturenpark geht, kommt an einem weiteren Popstar im Marler Kunstraum nicht vorbei: Thomas Schüttes „Melonensäule“ (2017), die ihr Pendant in der „Kirschensäule“ in Münster findet und in knallig rotem und grünem Lack strahlt. Was auffällt: Der Sockel ist, wie bei den anderen Kunstwerken, nicht mit Graffiti verziert. Die Sprayer-Szene verschont in Marl jene Stellen, die anderswo als beliebte Flächen angesehen werden, eine stillschweigende Übereinkunft: „Die Skulptur im öffentlichen Raum wird in der Stadt als ein hohes Gut angesehen“, sagt Elben.
Guillotinen auf dem alten Friedhof
Beim Skulpturenpark handelt es sich um den alten Friedhof der Stadt – und mittendrin stehen vier Guillotinen, was zunächst einmal schlucken lässt. Es handelt sich um die Installation „A View to the Temple“, mit der Ian Hamilton Finlay 1987 auf der Kasseler documenta daran erinnerte, dass der Kampf für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in eine Gewaltherrschaft mündete.
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Damit ist man noch lange nicht am Ende, könnte etwa „La Tortuga“ die rostige, auf dem Dach liegende Lok von Wolf Vostell vorm Theater besuchen. Man plant in Marl mit der Kunst im Kopf voraus, auch bei einer Skulptur von Franz Bernhard, die so platziert wurde, dass sie der künftigen Wohnhäusern nebenan nicht im Wege steht.
Den Kunstkenner Elben freut die Zusammenarbeit – und er sieht gute Zeiten für die Kunst in Marl, denn: „Es ist die ganze Stadt, die den Ausstellungsbereich darstellt.“ Und welche andere Stadt im Revier könnte das von sich behaupten?