Moskau. Die Punk-Mädchen, Putin und der Rock in Russland: Ilja Lagutenko, Sänger der sibirischen Band Mumiy Troll, traut sich, das Schweigen zu brechen und appelliert für eine mäßige Geldstrafe wegen der Provokationen von Pussy Riot in der Moskauer Erlöserkirche.
Am Freitag soll in Moskau das Urteil gegen die drei provozierenden Punkerinnen von Pussy Riot gefällt werden. Kaum ein russischer Musiker wagt es, den Prozess öffentlich zu kommentieren. Mumiy Troll aus Wladiwostok aber rufen zur Besonnenheit auf. Die „russischen Rolling Stones“ um Sänger und Sprachwissenschaftler Ilja Lagutenko , daheim zur besten Band des Millenniums gewählt, wollen mit ihrem ersten englischsprachigen Album „Vladiwostok“ international durchstarten. Olaf Neumann sprach mit Lagutenko über Wladimir Putin, Zensur in Russland und Pussy Riot
Juni 2010 saßen Sie auf Einladung von Wladimir Putin bei einer Benefiz-Veranstaltung mit ihm am Tisch.
Ilja Lagutenko: Ich habe ihn beim „Tiger Summit“ erlebt, der helfen sollte, den sibirischen Tiger vor dem Aussterben zu retten. Ich war für das Kulturprogramm zuständig. Solche Veranstaltungen sind immer ziemlich förmlich, ich habe mich mit Putin jedenfalls nicht privat zum Tee verabredet. (lacht)
Mag Putin Rockmusik?
Ich glaube nicht. Auch wenn er damals sagte, dass ihm unser Auftritt gefallen hätte und er helfen wolle, den sibirischen Tiger zu retten. Seinem Freund Medwedew nehme ich jedenfalls eher ab, ein Rock’n’Roll-Fan zu sein.
Warum reagiert Putin so empfindlich auf die Texte von Pussy Riot?
Keine Ahnung. Ich muss gestehen, dass ich mich bis vor Kurzem überhaupt nicht für Pussy Riot interessiert habe. Vor diesem Skandal hatte ich von der Band und ihrer Musik noch nie etwas gehört. Dann wollte ich mir ihr Album herunterladen und stellte fest, dass diese Seite bis dato nur wenige Dutzend Mal aufgerufen worden war. Fakt ist, niemand hört sich die Musik von Pussy Riot an. Da wurde mir schlagartig klar, dass du heutzutage als sozialer Aktivist machen kannst was du willst, aber für deine Musik interessiert sich trotzdem niemand. Ich bin der Meinung, dass die Kirche den Mädchen vergeben sollte. Die Regierung und die Kirchenoberen sind bei Pussy Riot einfach zu weit gegangen. Ich rate ihnen: Atmet einmal tief durch und schickt die Mädchen nach Hause.
Die Staatsanwaltschaft fordert für das „Punkgebet“ von Pussy Riot in der Erlöser-Kathedrale drei Jahre Haft. Glauben Sie an einen fairen Prozess?
Ich weiß nicht, was fair ist. Diese Mädchen ins Gefängnis zu stecken, ist Nonsens. Ich kann aber nachvollziehen, dass die russisch-orthodoxe Kirche und die streng Gläubigen sehr sensibel auf ihren Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale reagieren. Sie sollen ihnen eine Geldstrafe aufbrummen und sie nach Hause schicken
Wenn Sie mit Mumiy Troll demnächst wieder in Russland touren, werden Sie dann aufpassen, was Sie sagen?
Ich glaube nicht, dass es in Russland Einschränkungen geben wird, was Äußerungen von Künstlern in der Öffentlichkeit betrifft. Die regimekritische Avantgardeband Televisor aus St. Petersburg zum Beispiel hat schon vor Jahren einen Song geschrieben, der da heißt: „Mein Vater ist ein Faschist“. Ihr Boss Michail Barsykin ist einer der beeindruckendsten Lyriker Russlands. Diese Gruppe sagt viel aus über die derzeitige Atmosphäre in Russland. Es gibt nämlich Leute, die alles an unserem Land hassen. Die sind sogar dagegen, dass unser Olympiateam Goldmedaillen gewinnt. Ich finde, das ist der falsche Weg. Die Regierung ist schließlich nicht für alles verantwortlich. Es wird auch nicht so sein, dass eines Tages jemand kommt, der alles besser macht.
Sind Sie jemals zensiert worden?
Nein, nicht einmal zu Zeiten der Sowjetunion. Aber wir standen eine Zeit lang auf der offiziellen schwarzen Liste. Neben Bands wie den Sex Pistols und Black Sabbath. Ich bin mir aber sicher, dass die Behörden damals nicht einmal wussten, dass Mumiy Troll eine russische Band aus Wladiwostok ist. Ihnen machte einfach nur unser Name Angst: Mumie Troll.
War Rockmusik in der Sowjetunion offiziell verboten?
Nein, nicht generell. Die Regierung hat aber versucht, den Rock’n‘Roll als Jugendkultur völlig zu ignorieren. Westliche Platten durften bei uns nicht verkauft werden. Abba und Elton John gingen gerade noch okay, Led Zeppelin dagegen waren tabu. Meine erste Begegnung mit dem Rock’n’Roll waren Elvis Presley und Deep Purple. Ein Freund meiner Mutter brachte mir eine Musikkassette mit, als ich sieben war. Ich legte sie ein und hatte ein Erweckungserlebnis. „Highway Star“ klang in meinen Ohren wie Musik von einer anderen Galaxie. Aber in Wladiwostok war nichts los, noch nicht einmal russische Bands kamen zu uns.
In einem Interview haben Sie mal gesagt, Rockmusik spiele für Russland keine große Rolle. Woran liegt das?
Wenn ich das wüsste! Chinas Regierung ist der Rock’n’Roll sogar völlig wurscht. Die Gründe dafür liegen wahrscheinlich in der Geschichte des Landes. China war ja sehr lange komplett isoliert. In der Sowjetunion war Rockmusik anfangs wenigstens ein Underground-Hobby für eine Handvoll Menschen. Hier hat man durchaus nostalgische Erinnerungen an die Bands der 1970er und 1980er Jahre. Jedoch hatte Russland niemals einen Einfluss auf irgendwelche internationalen Musikströmungen.
Gab es in der Sowjetunion Prozesse gegen aufmüpfige Rockmusiker à la Pussy Riot?
Nicht dass ich wüsste. Natürlich gab es Musiker, die zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Aber nicht, weil sie politisch aktiv geworden waren, sondern weil sie Tickets für illegale Konzerte verkauft hatten.
Mumiy Troll gehört in Russland seit Jahren zu den populärsten Bands. Heißt dass, das Sie heute ein reicher Rockstar sind?
(lacht) Ehrlich gesagt haben wir vom ersten Tag an nie wirklich Geld für Plattenverkäufe gesehen. Von unseren Alben kursieren Millionen von Raubkopien. Nur unsere Auftritte sichern unsere Existenz. Hören wir damit auf, verdienen wir kein Geld mehr. Westliche Musiker erleben heute weltweit das, was wir in Russland von Anfang an erlebt haben.
Mumiy Troll - Vladivostok (CD, Silversonic Rec./H’art Musik Vertrieb)