Essen. Es ist keine natürliche Geburt, fühlt sich aber natürlicher an als ein Kaiserschnitt: die Kaisergeburt, wie an der Uniklinik in Essen.

Ein Operationssaal im Essener Universitätsklinikum: Die Uhr zeigt fünf Minuten nach halb elf, als an einem nebeligen Vormittag Ende Januar Baby Minas aus dem Bauch seiner Mutter geholt wird und die Welt mit einem Schrei begrüßt. So wundervoll jede Geburt auch ist, diese ist auf eine Art ganz besonders: Obwohl sechs Mediziner Minas dabei helfen, geboren zu werden, und das per Kaiserschnitt, können seine Eltern dabei zuschauen.

Der erste Moment außerhalb von Mamas Bauch. Obwohl der Junge per Kaiserschnitt geholt wird, können die Eltern die Geburt ihres Minas sehen. Kaisergeburt heißt diese Möglichkeit
Der erste Moment außerhalb von Mamas Bauch. Obwohl der Junge per Kaiserschnitt geholt wird, können die Eltern die Geburt ihres Minas sehen. Kaisergeburt heißt diese Möglichkeit © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Das Licht im OP wird gedimmt und das Tuch, das auf Brusthöhe der Mutter gespannt ist, wird entfernt. Nachdem die Nabelschnur durchtrennt ist, wird das Neugeborene, nackt wie es ist, seiner Mutter direkt auf die Brust gelegt. Sein Papa sitzt dicht daneben. Erst nach mehreren Minuten bringt eine Hebamme Minas in den Nebenraum, wo sie ihn erstversorgt und in ein Tuch gewickelt zurück auf die Brust seiner Mama legt.

Eltern und Kind genießen den Moment, sind in sich gekehrt, blenden alles aus. Dass auf der anderen Seite des inzwischen wieder gespannten Tuchs Ober-, Fach- und Assistenzärzte sowie zwei Studierende sich um die Plazenta kümmern und die Bauchdecke zunähen. Blenden auch die Pfleger aus, die Hebammen, die Kinderschwestern und Ärzte, den Anästhesisten – während der Geburt sind 15 Menschen zugegen. Sie blenden alles aus. Auch das gleißende Licht.

Schwangerschaftsvergiftung machte Eingriff nötig

Den Kaiserschnitt nötig machte eine Schwangerschaftsvergiftung, die bei der 36-jährigen Mutter von Minas vorläge, hatte Pfleger Klaus Siepmann erklärt, während er die OP und das Blutdruckmessgerät vorbereitet hat. Dazu Diabetes und ein bisschen Adipositas. Und auch Minas anderthalb Jahre älterer Bruder war per Kaiserschnitt zur Welt gekommen.

Zwei Tage zuvor war entschieden worden, die Schwangerschaft in der 37. Woche per Operation zu beenden. „Wenn alles gut wäre, hätte man noch gewartet“, erklärt Siepmann. „Aber wegen der allgemeinen Problemlage hat man das jetzt eben früher gemacht. Und wenn Kontakt aufgebaut werden kann und der Vater dabei ist und sie das Kind aus dem Bauch treten sehen, dann ist das ja fast wie bei einer normalen Geburt.“

Kaisergeburt wird diese Art des Kaiserschnitts genannt. Im Uniklinikum Essen wird sie seit rund fünf Jahren angeboten und ist inzwischen Standard geworden, wenn eine natürliche Geburt nicht möglich ist, wie Dr. Udo Schwenk, der operierende Oberarzt an der Geburtsklinik, erklärt. Denn im Universitätsklinikum Essen kann sich jede Frau, bei der ein Kaiserschnitt nötig ist, für die Kaisergeburt entscheiden. „Sanfte Alternative“ oder „intensives Geburtserlebnis“ wird sie auf Elternplattformen genannt.

Schneller Hautkontakt

„Wenn die Bauchdecke geöffnet ist“, sagt Udo Schwenk im Vorfeld, „lassen wir das Kind sich langsam entwickeln, atmen. Lassen die Nabelschnur auspulsieren. Das Kind kann vor dem Abnabeln zu sich kommen.“ Auf der Homepage des Klinikums heißt es zur Kaisergeburt: „Auch wenn Ihr Kind geplantermaßen oder ungeplantermaßen per Kaiserschnitt zur Welt gebracht wird, möchten wir Ihnen und Ihrem Partner ein so natur- und familiennahes Geburtserlebnis ermöglichen, wie dies medizinisch vertreten werden kann.“ Schneller Hautkontakt und das Spüren des mütterlichen Herzschlags seien wichtig: „Nachgewiesenermaßen führt dieses frühe Bonding zu einer verbesserten Anpassung des Kindes, zu einer besseren Atmung und zu einer intensiveren Mutter-Kind-Bindung“, heißt es.

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Minas’ Vater ist nach der Geburt jedenfalls glücklich. Der 36-Jährige freut sich, dabei gewesen zu sein. „Ich bin zufrieden. Diese Geburt war besser, als die unseres ersten Sohns in einer anderen Klinik.“

Ein paar Zimmer weiter, auf Station, liegt die frisch gebackene Mutter der wenige Tage alten Leonie. Auch sie ist per Kaisergeburt auf die Welt geholt worden. „Sie war eine Beckenlage“, erzählt ihre 43-jährige Mutter. „Und ich hatte große Angst vor einer Spontangeburt, auch vor den Schmerzen.“

Die Kaisergeburt war ein Entschluss ihres Mannes. „Wir wollten eine nahezu natürliche Geburt erleben, unterstützt durch den Kaiserschnitt“, sagt der 57-Jährige. „Vordringlich war der Kaiserschnitt – die Kaisergeburt war ein netter Nebeneffekt. So eine Geburt ist überwältigend, ein Wunder der Natur. Egal wie.“ Sie hatte Angst, zu viel zu sehen, erzählt die Mutter noch. „Aber ich konnte nur Leonie sehen, wie sie Schritt für Schritt aus dem Bauch geholt wurde. Das war sehr bewegend.“

Alternative zur natürlichen Geburt?

Wozu also noch die Schmerzen und Unvorhersehbarkeiten einer natürlichen, so genannten spontanen Geburt ertragen, wenn sie sich planen und beschleunigen lässt?

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Kaiserschnittkinder haben oft Anpassungsstörungen, sagt der Mediziner Udo Schwenk. „Bei der Kaisergeburt ist der Übergang angenehmer, vom Gefühl her ist es besser.“ Wunschkaiserschnitte, also solche, für die es keine medizinische Notwendigkeit gibt, mache man in der Klinik „relativ ungern“, betont Schwenk. Denn das Risiko eines Geburtsschadens sei bei einer Operation ungleich größer.

Seltene Risiken, die es bei der Spontangeburt aber nicht gibt

„Ich hatte noch nie Frauen nach einer natürlichen Geburt wegen einer Verletzung von Organen auf Intensivstation.“ Nach einem Kaiserschnitt aber schon, erinnert sich der 56-Jährige. Zum Beispiel sei bei einer Patientin nach der OP die Plazenta in die Gebärmutter eingewachsen. „Das sind seltene Risiken“, sagt er, „die es aber nach einer Spontangeburt nicht gibt.“

Gründe für einen Kaiserschnitt können Vorerkrankungen sein, etwa des Herz-Kreislauf-Systems, wenn das Baby quer liegt, eine Schwangerschaftsvergiftung, oder wenn es schon einmal eine Kaiserschnittgeburt gab. „Es ist lukrativer, einen Kaiserschnitt zu machen. Aber wir machen ihn nicht auf Biegen und Brechen“, sagt Udo Schwenk. „Ohne Risikofaktoren empfehlen wir immer eine normale Geburt.“

>> Die Kaisergeburt aus der Sicht einer Hebamme

Anna Lena Seckler arbeitet als Hebamme. Anfangs war sie im Krankenhaus, machte sich dann selbstständig und bot Vor- und Nachsorge sowie Kurse an. Seit einiger Zeit ist die 39-Jährige nun – um auch wieder Geburten mitzuerleben – Teil des Hebammenteams im Geburtshaus Essen. Ein Kaiserschnitt sei eine gute Möglichkeit für Mutter und Kind, wenn es Komplikationen gibt, sagt sie. Nicht mehr und nicht weniger.

Geburtshelferin Anna Lena Seckler (39) vom Geburtshaus Essen.
Geburtshelferin Anna Lena Seckler (39) vom Geburtshaus Essen. © Handout | Ellen Luebeck

Wenn dabei die Mutter zusehen und ihr Baby direkt spüren kann, mache eine Kaisergeburt ein Findungserlebnis und eine hormonelle Bindung möglich. Jedoch nur wenn eine natürliche Geburt schwierig oder ausgeschlossen ist, sei die Kaisergeburt eine gute Wahl: „Wenn ein Kind schon nicht auf natürlichem Wege geboren werden kann, ist das eine tolle Möglichkeit und ein Gewinn für Mutter und Kind.“

Die Kaisergeburt sei aber auch „der verzweifelte Versuch, die Bindungsprobleme, die bei einem Kaiserschnitt oft entstehen, zu kompensieren.“ Seckler beobachtet mit Sorge, dass geplante Kaiserschnitte immer mehr an Bedeutung gewinnen. „Ich befürchte, dass der Kaiserschnitt durch die Möglichkeit einer Kaisergeburt romantisiert wird“, sagt die Geburtshelferin. Bei einer natürlichen Geburt habe man aber ein ganz anderes Erleben. „Eines muss ganz klar sein“, sagt Seckler: „Ein Kaiserschnitt und auch eine Kaisergeburt hat mit einer natürlichen Geburt nichts zu tun.“