Essen. Der Dichterfürst aus Weimar hatte eine Pockeninfektion überstanden – ohne Impfung. Aber im hohen Alter befürwortete er eine Pflicht zur Impfung.
Deutschland, um 1760. Die hochansteckende Pockenkrankheit breitet sich rasch aus. Eine Impfung ist möglich, wird auch vielfach empfohlen, aber von den meisten Ärzten abgelehnt, obwohl eine „wahrscheinliche Hilfe schon durch den Erfolg mannigfaltig bestätigt war“, weil ein solcher Eingriff „der Natur vorzugreifen schien“. Dies schreibt Goethe, der selbst als Kind „mit ganz besonderer Heftigkeit“ an den Pocken erkrankte, in seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“. Und er erinnert sich an „spekulierende Engländer“, die ins Land kamen und die „Kinder solcher Personen, die sie wohlwollend und frei von Vorurteilen fanden“ impften – gegen ein „ansehnliches Honorar“!
Der Knabe Goethe hat die Krankheit trotz „großen Leidens“ gut überstanden; er behielt allerdings im Gesicht sogenannte Pockennarben zurück. Eine Tante habe ihn in späteren Jahren nicht sehen können, ohne zu rufen: „Pfui Teufel! Der Vetter, wie garstig ist er geworden!“ Dies mag erklären, dass er sich lebenslang mit Fragen der Pockenimpfung befasste, wie ein Aufsatz zeigt, der im 23. Band des „Goethe-Jahrbuchs“ von 1902 erschienen ist. Der Verfasser, ein gewisser H. Cohn, berichtet von einem Gespräch zwischen dem 81-jährigen Goethe und seinem Leibarzt Dr. Carl Vogel, der Goethe in den letzten sechs Jahren seines Lebens bis zu seinem Tod betreut hat.
Gespräch über den „Segen der Impfung“ mit Dr. Carl Vogel
Es geht im Gespräch zwischen Vogel und Goethe um den „Segen der Impfung“. Die beiden kommen auch auf die heikle Frage des Impfzwangs und eines entsprechenden Gesetzes zu sprechen. Zu dieser Zeit war eine Impfung gegen Pocken lediglich in Bayern, später auch in Baden und anderen Ländern des Deutschen Bundes, aber noch nicht im Herzogtum Weimar verpflichtend eingeführt worden. Das Königreich Bayern war übrigens weltweit das erste Land, das eine Impfpflicht eingeführt hatte; erst 1874 galt diese im gesamten Deutschen Reich.
Goethes Arzt weist auf Fälle in Eisenach hin, in denen trotz Schutzimpfung bei einigen Behandelten die Krankheit ausgebrochen sei. Diesen Einwand – der ja auch heute oft zu hören ist – entkräftet Goethe, indem er sagt, „kleine Ausnahmen“ kämen „gegen die unübersehbaren Wohltaten des Gesetzes nicht in Betracht“, Ausnahmen änderten an der Richtigkeit des Prinzips nichts.
Immer dafür, streng auf ein Gesetz zu halten
Dr. Vogel – damals Dezernent für Medizinalangelegenheiten im Weimarer Herzogtum – brachte in seinem Dezernat den Antrag ein, die Impfung „allen im Land damit Beauftragten zur Pflicht zu machen“. Goethe hoffte, dass dieses Gesetz zum Impfzwang durchkäme, er sagte dazu: „Ich bin immer dafür, streng auf ein Gesetz zu halten, zumal zu einer Zeit wie der jetzigen, wo man aus Schwäche und übertriebener Liberalität überall mehr nachgibt als billig“.
Ein Blick ins 20. Jahrhundert: Wer in der Bundesrepublik zwischen 1967 und 1976 geboren wurde, unterlag der von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschriebenen Pockenschutzimpfung. Danach wurde die Verpflichtung aufgehoben, die Pocken galten als ausgerottet. Heute folgt die Argumentation für und wider eine verpflichtende Schutzimpfung gegen Covid-19 ähnlichen Mustern wie zu Goethes Zeiten. Verstößt eine Impfpflicht gegen die Freiheiten des Individuums? Welches Gut ist höher einzuschätzen, die Gesundheit oder die Willensfreiheit? Leiden wir heute auch an „übertriebener Liberalität“ und scheuen deshalb vor einer Impfpflicht zurück? Gibt es nicht Fälle, wo trotz Impfung die Krankheit ausbrach?
Der Verfasser des Artikels im Goethe-Jahrbuch kommt 1902 zu dem Schluss: „Man sieht, wie richtig Goethe schon vor 70 Jahren die Zwangsimpfung bewertete“. Heute würde Goethe sich wohl nicht durchsetzen können. Aber eine Überlegung sind seine Ausführungen allemal wert.