Essen. Vor 100 Jahren gründeten 41 Essener die erste Goethe-Gesellschaft in der Region. Heute müht sich die Gesellschaft, auch Jüngere zu begeistern.
Nicht in Düsseldorf oder Köln oder Münster – in Essen gründete sich vor 100 Jahren der erste Ableger der Weimarer Goethe-Gesellschaft in hiesiger Region. Und noch dazu kann die Essener Gesellschaft „als einzige von sich behaupten, seit ihrer Gründung und somit seit einhundert Jahren ununterbrochen tätig gewesen zu sein“, so ihr Vorsitzender Bertold Heizmann.
Das wären zwei gute Gründe, den 28. August 2020 (nicht zufällig auch Johann Wolfgang von Goethes Geburtstag, der 271. in diesem Jahr) gebührend zu feiern – hätte nicht Corona die lange gehegten Partypläne gründlich durchkreuzt. Im April 2021 soll nachgefeiert werden, wenn auch mit pandemiebedingten Fragezeichen.
Wobei die eigentliche Frage wohl lautet: Warum Essen?
1898 wird am Limbecker Platz die „Krupp’sche Bücherhalle“ eröffnet
Die Antwort Bertold Heizmanns hat 80 Seiten und trägt den Titel „Die Kultur an die Stätten der Arbeit!“. So formulierte es der vor 100 Jahren amtierende Bürgermeister Hans Luther, der die Gründung der Essener Goethegesellschaft entschieden befürwortete. Heizmann erläutert kundig, wie Goethes Erbe 1885 an den Freistaat Sachsen fiel und die folgende erste Gesamtausgabe seines Werkes schließlich die Literaturfreunde zur Gründung der Weimarer Muttergesellschaft befeuerte. „Mit der Sehnsucht nach einer nationalen Einheit wächst das Bedürfnis, Goethe zum „Klassiker“ und zum „deutschen Nationaldichter“ zu erheben“, so Heizmann.
Im rasch gewachsenen Ruhrgebiet ist das kulturelle Angebot in diesen Jahren dünn. 1898 wird am Limbecker Platz in einem alten Knappschaftsgebäude die „Krupp’sche Bücherhalle“ eröffnet: Die Bücherhallenbewegung wollte die Volksbibliotheken mit den wissenschaftlichen Bibliotheken vereinen, „interessanterweise gegen erhebliche Widerstände gerade der gebildeten Kreise, die sich nicht mit dem „Pöbel“ gemein machen wollen“, schreibt Bertold Heizmann. In eben dieser Bücherhalle treffen sich nun 1920 41 Freunde der Literatur, um die „Ortsgruppe Essen der Goethe-Gesellschaft zu Weimar“ zu gründen.
130 Mitglieder hat die heutige Goethe-Gesellschaft in Essen
Schnell gehört es zum guten Ton der oberen Schichten, hier Mitglied zu sein und sich zu Vorträgen zusammenzufinden. Auch in den Kriegsjahren kommt die Arbeit der Goethe-Gesellschaft nicht zum erliegen – „es gab auch in dieser dunklen Zeit einen Bedarf nach Kultur“, sagt Bertold Heizmann; zeitweise allerdings hatte die Gesellschaft gerade einmal 15 Mitglieder.
Knapp 60 Goethe-Gesellschaften gibt es heute in Deutschland, sie alle plagt mehr oder weniger das gleiche Problem: Das Bildungsbürgertum, das einst ihr Fundament war, gibt es so nicht mehr. „Goethe und Schiller sind für die Jüngeren oft nur die Autoren, mit denen sie in der Schule gequält wurden“, bedauert Heizmann. Mit Veranstaltungen in den Schulen selbst wollen die nunmehr 130 Mitglieder in Essen das Interesse lebendig halten. Zum Vorstand der Gesellschaft zählen, neben dem Germanisten Heizmann „zwei Ärzte, ein Ökonom, eine MTA, eine Lehrerin, ein Banker“ – „es sei das erklärte Ziel, alle Bevölkerungsschichten anzusprechen“.
Kooperationen mit der Folkwang-Universität, „eigenwillige“ Aufführung freier Theater sollen ein junges Publikum locken – und doch soll zugleich „billige Anbiederung“ vermieden werden. „Natürlich wird auch die sprachliche Distanz immer größer“, das versteht Bertolt Heizmann – und mag sein eigentliches Ziel doch nicht aufgeben: „Zu vermitteln, wie vielschichtig und spannend Goethes Werke sind.“