Essen. Im Gespräch blickt Fritz Pleitgen zurück auf die Zeit der deutschen Einheit, schlägt einen neuen Feiertag vor – und fordert eine Ost-Strategie.
Fritz Pleitgen war nicht nur von 1995 bis 2007 WDR-Intendant und dann vier Jahre Chef der Kulturhauptstadt Ruhr.2010, sondern danach auch noch zehn Jahre lang Präsident der Deutschen Krebshilfe. Und hat doch zu lange die Anzeichen seines Bauchspeicheldrüsentumors verdrängt – denn er wollte fertig werden mit seinem Buch über die deutsche Einheit.
Nun ist ein Kapitel darin seiner Erkrankung gewidmet, von der Pleitgen so sachlich berichtet, wie man ihn vom Bildschirm kennt, und so freimütig, wie er unter vier Augen sein kann. Seine Operation hat Pleitgen gut überstanden, er genießt jeden Tag, reist nach Görlitz und zur Elbphilharmonie – und redet am liebsten über sein Buch, das ihm so am Herzen liegt, auch mit Jens Dirksen.
Gab es denn noch nicht genug Bücher über die deutsche Einheit?
Fritz Pleitgen: Ich bin kein Historiker, ich wollte auch keine dröge politische Analyse abliefern. Ich bin Journalist, ich erzähle Geschichten, und zwar so, wie ich sie erlebt habe. Ich hatte ja das Glück, dass ich damals viel berichtet habe, von 1970 bis 1977 aus Moskau, dann aus Ost-Berlin, ab 1982 dann bis 1988 aus den USA und schließlich als Berichterstatter über die deutsche Wiedervereinigung. Ich habe mir mit Hilfe der tollen Kolleginnen und Kollegen in den Archiven von WDR und NDR meine Berichte von damals noch einmal angeguckt.
Zu Person und Buch
Fritz Pleitgen wurde am 21. März 1938 in Duisburg-Meiderich geboren und wuchs in Bünde bei Bielefeld auf. Er ist seit 1969 mit seiner Frau Gerda verheiratet und hat vier Kinder: Christoph, Vanessa, Frederik und Benjamin. Fritz Pleitgen: Eine unmögliche Geschichte. Als Politik und Bürger Berge versetzten. Herder/Keyser, 374 S., 24 €.
Fritz Pleitgen blickt zurück auf die deutsche Einheit
Paradox: Als die deutsche Einheit passierte, kam es Ihnen vor wie im Schneckentempo, aber von heute aus gesehen raste damals die Zeit, haben Sie geschrieben.
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Das war für mich die Entdeckung! In den 70er und 80er-Jahren hatte sich ja im Grunde nichts bewegt. Als ich diesen Zustand beschrieben habe, war der Gedanke, dass diese beiden deutschen Staaten in ein paar Jahren eins sein würden, unvorstellbar. Ich konnte es nicht fassen. Wenn ich damals Willy Brandt oder Helmut Kohl erklärt hätte, so wird die deutsche Einheit in ein paar Jahren ablaufen, hätten die beiden mich für reif für die Klapsmühle gehalten. Dabei kam das mit kosmischer Geschwindigkeit auf uns zu!
Und was hat dann doch dafür gesorgt?
Zwei Dinge: Das Auftauchen von Gorbatschow – und dass die Menschen bereit waren, für ihre Überzeugungen Druck zu machen auf die Politik. Es war ja nicht nur die deutsche Einheit, die sich damals durchzog, es war ja auch das Ende des wahnwitzigen Wettrüstens. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Bombengeschäft für die Rüstungsindustrie. Das Kürzel dafür hieß nicht von ungefähr „MAD“, mutual assured destruction, also „gegenseitig zugesicherte Vernichtung“. Die Angst vor dem Dritten Weltkrieg war immer da, und einmal wäre es ja auch fast dazu gekommen, wenn nicht Oberstleutnant Petrow im September 1983 nicht erkannt hätte, dass es sich bei der Meldung, US-Langstreckenraketen würden die Sowjetunion angreifen, um einen Fehlalarm handelte, das war ein lebenserfahrener Mann, zum Glück. Und dann kam Gorbatschow, aber auch Ronald Reagan…
„Mr. Gorbatschow, tear down this wall…“
Es gibt ja auch die These, dass die Amerikaner die Sowjetunion zu Tode gerüstet hätten.
Sie wollten. Aber sie haben es ja nicht gemacht. Sie haben ja den umfassendsten Abrüstungsvertrag aller Zeiten unterschrieben. Da wurden Zehntausende Raketen mit Atomsprengköpfen vernichtet. Waffen, mit denen man ganze Erdteile hätte auslöschen können. Das waren Wunderwerke der Technik – und die sind verschrottet worden! Eine Leistung, die nicht hoch genug geschätzt werden kann.
Aber als Reagan gefordert hat, Mr. Gorbatschow, tear down this wall…
… da habe ich sinngemäß kommentiert, dass sowas ja nur ein ahnungsloser Amerikaner fordern kann. Zwei Jahre später war die Mauer weg.
Die Menschen in Ostdeutschland haben den größten Anteil an der deutschen Einheit
Wie ging das?
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Vor allem durch die Widerstandskraft der Menschen in der DDR, und da war für mich entscheidend die Demonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig, wo das Regime noch einmal versucht hat, die Menschenmassen mit Psychoterror von den Straßen runterzubringen. Aber die Leute sind untergehakt trotzdem marschiert, deshalb bin ich der Meinung, dass der Tag der deutschen Einheit eigentlich am 9. Oktober gefeiert werden sollte, nicht am 3. Oktober, an dem die Volkskammer den Beitritt beschlossen hat, das war ja eigentlich nur noch ein Verwaltungsakt. Was auf der Straße ablief, war eine große Leistung der Menschen in Ostdeutschland. Das wird auch viel zu wenig gewürdigt, dass die den größeren Anteil an der deutschen Einheit haben.
Sie haben aber auch Michail Gorbatschow am letzten Tag getroffen, an dem er noch die Macht hatte, bevor Boris Jelzin ihn dann ablöste.
Ja. Ich habe Friedrich Nowottny noch einmal gefragt, der mit Manfred Erdenberger auch dabei war. Nowottny erinnerte sich daran, dass Jelzin nach uns mit einem roten Aktenordner zu Gorbatschow reingegangen ist. Gorbatschow hatte uns gesagt: „Ich habe leider nur 45 Minuten, und dann kommt Boris Nikolajewitsch und vielleicht bedeutet unser Gespräch dann das Ende der Sowjetunion.“ So war es denn auch.
Junge Menschen im Osten wissen kaum noch, wer Erich Honecker war
Kann man aus der Geschichte lernen?
Man sollte da nie aufgeben, deshalb habe ich als Motto gewählt: Nichts ist unmöglich, auch nicht das Gute. Ich habe das im Buch unter der Überschrift „Happy End“ zusammengefasst: Zum einen bleibt nichts, wie es ist, das hat ja Willy Brandt gesagt, aber auch das Moldaulied von Brecht, in dem es heißt: „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine“ – das habe ich selbst sehr häufig erlebt, dass Große, die sich für unerschütterlich hielten, zum Schluss klein beigeben mussten, und dass Menschen, die Widerstand geleistet haben, dafür groß herausgekommen waren. Zehn Jahre nach der Wende habe ich im Osten aufgeweckte junge Menschen nach Erich Honecker gefragt, und fast keiner von denen wusste, wer das war. Das sollte eine Warnung an alle Autokraten sein. Der unerschrockene Wolf Biermann hat 1966 über die Mächtigen in der DDR gedichtet: „Im ,Neuen Deutschland‘ finde ich täglich Eure Fressen, / und trotzdem seid Ihr morgen schon verdorben und vergessen!“
Sie haben auch als Kontrastbeispiel zur deutschen Einheit angeführt, dass die Gräben zwischen den einstigen Bürgerkriegsparteien im Süden und im Norden der USA bis heute nicht überwunden sind.
Genau, da sehen Sie doch jetzt die Diskussion um die Denkmäler für Südstaaten-Generäle, die abgerissen werden sollen. So schnell wächst nun mal nicht zusammen, was zusammengehört.
Damals war viel Bewegung in der Politik
Der tiefgreifendste Effekt von 1989 war wohl, dass man wieder an die Veränderbarkeit von Geschichte geglaubt hat.
Damals war unheimlich viel los! Da war so viel Bewegung in der Politik, und wenn ich dann auf heute schaue, wo wir wieder im Stillstand angekommen sind, wie wir aus den Krisen wie im Jemen oder in Syrien nicht rauskommen, weil wir kein ordentliches Verhältnis zu Russland hinkriegen, weil wir sicher sind, dass die schuld sind, und die sind sich sicher, dass wir schuld daran sind. Mir ist nicht bekannt, dass es bei uns ein Konzept gibt, wie man aus dieser verfahrenen Situation wieder herauskommen könnte. Das hätte ich gern mal gesehen. Man bräuchte so etwas wie Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ als Grundlage der Ostpolitik. Wir sind zu sehr auf Putin fixiert, man sollte eine europäische Politik mit Russland machen, langfristig angelegt. Der Außenminister sollte mal ein Team aus erfahrenen Journalisten, Historikern und Politikern zusammenstellen, die könnten ruhig vier Jahre Zeit bekommen, um ein europäisches Konzept auszuarbeiten. Damit könnte man auch Putin neugierig machen. 2001 hat Putin seinen ersten Auslandsbesuch als Präsident in Deutschland gemacht.