Ruhrgebiet. Seit 2010 hat es viele kleine „Still-Leben“ gegeben. Aus welchen Gründen es das eine, große aber nicht mehr geben wird. Jetzt neu: Mit Kommentar!
Seit 2010 heißt jedes bessere Straßen-Picknick „Still-Leben“, wenigstens im Ruhrgebiet. 100 Tische auf dem Freigrafendamm in Bochum-Altenbochum: Still-Leben. 240 Tische auf der Lindemannstraße im Dortmunder Kreuzviertel: Still-Leben. 850 Jahre Essen-Burgaltendorf, Autos runter, Tische rauf: genau! So gesehen, müsste sich einer längst die Rechte sichern: Still-Leben™.
Die Marke lebt, auch nach sechs, acht, zehn Jahren ist sie tief in der Erinnerung und im Herzen verankert. Immer mal wieder macht sich auch der Gedanke Luft, es einfach zu wiederholen. Die NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach (CDU) aus Kamen stellte schon im Sommer 2017 in einem Interview über Schwachstellen des Ruhrgebiets die Frage: „Warum hat man nicht das beeindruckende Still-Leben auf der Autobahn 40 fortgesetzt? . . . So etwas müsste man regelmäßig anbieten.“
Fahrradfahrer wollten die A42 für ihre eigenen Zwecke sperren
Und vor weniger als einem Jahr tauchte der Vorschlag, leicht modifiziert, nochmals auf: Man könne doch im Spätsommer 2020 den Emscherschnellweg (A 42) für einen Sonntag sperren und wenigstens für Fahrräder mit und ohne E-Hilfskraft freigeben, als Zeichen für das Klima und gegen böse Emissionen. Damals eilte der „Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC)“ zu Hilfe: „Wenn wir eine Verkehrswende wollen, müssen wir Zeichen setzen. Das Ruhrgebiet braucht solch ein Zukunftsereignis.“
Geworden ist nix.
Und hätte es die Planungen gegeben: Corona hätte die Fahrrad-Autobahn 42 geschreddert. Das zeigt, dass das Problem tiefer liegt: Eine autofreie und begehbare Autobahn vorzubereiten und zu organisieren, ist ein Heiden-Projekt – das, wenn man Pech hat, schon an einem einfachen, aber mehrstündigen Landregen kaputtgehen könnte.
„Ich halte zum Schutz der Besucher eine Neuauflage für nicht realisierbar“
Nichts gegen die Straßenpicknicks, im Gegenteil; und nach allem, was man liest, hatten die Bochumer und die Dortmunder und die Essener Teilnehmer und die vielen anderen in den anderen Städten dabei großen Spaß; davon ab, schwelgten sie in einschlägigen Erinnerungen an einen bestimmten Sonntag im Sommer 2010. Aber so ein Still-Leben wird es nicht mehr geben.
Karola Geiß-Netthöfel, die Chefin des „Regionalverbands Ruhr (RVR)“, hat das schon einmal ausformuliert: „Vor dem Hintergrund der langen Vorbereitungszeit sowie der verschärften Sicherheitsvorkehrungen nach dem Loveparade-Unglück in Duisburg halte ich zum Schutz der Besucher eine Neuauflage für nicht realisierbar.“
Es gab eine einzige größere Neuauflage: die „Blaupause“ der Ruhr-Universität
Es gab ein großes Still-Leben nach dem Still-Leben, und das lehrt uns einiges. 2015 feierte die Ruhr-Universität Bochum ihr 50-jähriges Bestehen damit, dass die Universitätsstraße gesperrt und bespielt wurde. Die Veranstaltung hieß wortverspielt „Blaupause“: weil es eine Kopie war, oder sagen wir besser, eine Verbeugung. Aber natürlich auch, weil blau die Farbe der Ruhr-Uni ist und jener Samstag zum Feiern da war.
Die Atmosphäre war großartig, die Zahl der Teilnehmer und der Flaneure sechsstellig, schließlich ist jene Straße eine der großen Ausfallstraßen aus Bochum heraus und war über viele Kilometer gesperrt. Ein tolles Fest also, nach dem die Verantwortlichen vermutlich schunkelten, sich abklatschten oder irgend etwas in der Art. Ein Riesenereignis. Und dann kommt Richard Döhle daher, verantwortlich für die Sitzgarnituren 2010 wie 2015. Und Döhle sagte: „Gegen das Still-Leben war die Blaupause ein Kindergeburtstag.“
Das gab’s nur einmal, undsoweiter. Aber schade ist es doch.
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Kommentar: Chance genutzt, Chance vertan
Eben mal kurz die Welt retten – leicht gesagt in einem einzigen Jahr und „damals“ unter dem limitierenden Eindruck der Finanzkrise. Überhaupt war die Chance des Kulturhauptstadttitels für das vergleichsweise barocke Revier etwa mit den Erfolgsaussichten eines Poolreinigers im Kohlenpott gleichzusetzen. Und doch hat RUHR.2010 dem Aschenpott‘l das Ballkleid überwerfen dürfen und einige erinnerungswürdige Momente wie die Schachtzeichen geschaffen.
Maximal memorabel natürlich das „Still-Leben“, das Straßenfest der Alltagskultur, mit leicht verklärt gefühlten 5,1 Millionen Menschen im schönsten Stau der Welt auf der A40 und globaler Medienwirkmächtigkeit.
Auch schon wieder zehn Jahre her genau auf den Tag heute!
Was blieb? Wenig bis nichts, meinen viele – und doch mehr als man denkt. Netzwerke vor allem in den Kulturbetrieben, auch ein aufrechterer Gang des Ruhris. Etwas Vergleichbares an Strahlkraft und Identifikationspotenzial wie das „Still-Leben“ aber nicht, allen Wiederholungs-Wünschen zum Trotz. Der Zauber der Einmaligkeit wäre sicher schwerlich reproduzierbar – die Variante eines „Mobil-Lebens“ für Fahrräder und E-Bikes auf der A42 hingegen hätte nicht nur Charme gehabt, sondern auch klima-kollektiven Drive. Fragen der Finanzierung und Sicherheit lassen sich lösen. Das ständige Schlusslicht der Nation braucht solche Zukunftsereignisse! (das nächste, die IGA, kommt 2027...)
Dass Corona sämtlichen Planungen Luft rausgelassen hätte: geschenkt. Es gab ja gar keine. Vom Regionalverband Ruhr, dessen 100-Jähriges selbst vom Virus verweht ward, und von Ruhr Tourismus: mehr Stille als Leben.
Marc Oliver Hänig ist Ressortleiter Wochenende und war seinerzeit der Pressesprecher von RUHR.2010