Gelsenkirchen. .

Gelsenkirchens Musiktheater im Revier erzählt Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ zwischen Armutsbericht und Märchen-Fantasie.

Er erzähle eine Geschichte von Nichtessen, von Essen und Gegessenwerden, hatte der Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema vor der gefeierten Premiere von Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ am Musiktheater im Revier erklärt. Gleich im ersten Bild wird klar: „Armut essen Seele auf“ steht unsichtbar über der Besenbinder-Stube, „Hunger ist ein tolles Tier“, fährt Mutter Gertrud (Noriko Ogawa-Yatake) verzweifelt, ja genervt ihrem Mann Peter (Björn Waag) in die Parade. Dijkema holt Humperdincks Grimm-Bearbeitung in unsere Tage, er entromantisiert, ohne das Verspielte zu opfern.

Ein kahler, in grünes Licht getauchter Raum, darin nur Tisch, Stühle, eine Hängelampe, ein paar Reiserbesen – hier fristet die Familie ihr Dasein. Gretel (Alfia Kamalova) hat sich ihren kindlichen Optimismus noch bewahrt, tollt her­um, tanzt, schaukelt auf der Hängelampe. Hänsel (Al­muth Herbst) dagegen zeigt schon Punk-Attitüde. Die Mut­­ter, Lockenwickler-bewehrt, wirkt nicht nur wegen ihres Samurai-Kaftans wie die Kampfmaschine der Familie; der schwache, antriebslose Vater hat beim Erscheinen die leere Pulle in der Hand und kratzt sich im Schritt… Wenn die beiden sich streiten, wird das Licht blutrot, und die Schatten-Kämpfe auf der Rückwand wirken bedrohlicher als das Bühnengeschehen.

Böser Backautomat

Die realistische Hartz-IV-Atmosphäre bricht, wenn sich die ausgesetzten Kinder im Zauberwald verirren. Die Szene wird dann surreal, es ragen riesige Messer und Gabeln in den Himmel, eine exzellente Lichtregie lässt die Geschwister auf der Suche nach Essbarem wie im Schattenspiel herumirren. Immer wieder setzt Dijkema auf den märchenhaften Charakter von Scherenschnitten, zuweilen glaubt man sich mitten in einer Fotografie von Man Ray.

Wie schlüssig und unbeschwert sich Märchen-Phantasie auch im Heute entfalten kann, zeigt Dijkema, wenn die Kinder auf das Hexenhaus stoßen, das aus pinkbunten Lebkuchen-Schachteln zusammengesetzt ist. Diese Hütte, in der die schrille Rosine Leckermaul (herrlich, wie William Saetre die kaum kaschierte Boshaftigkeit zelebriert) ih­rem kinderfeindlichen Treiben nachgeht, ist weihnachtsmarkttauglich. Drinnen wartet ein phantastischer Hightec-Schredder-Rühr-Knet-Backautomat, ein Meisterwerk der Bühnenbildnerei, genau richtig für den großen Showdown.

Johannes Klumpp leitet die Neue Philharmonie Westfalen, die bei Humperdincks Hit-Oper wieder eindrucksvoll auf­trumpft. Der große, von ein paar zaghaften Buhs durchsetzte Beifall des Premierenpublikums aber galt zu Recht Michiel Dijkema. Und der jungen Sopranistin Alfia Kamalova, die (im Wechsel mit Enghellushe Duka) ihre erste große Partie am MiR singt, und der neu zum Ensemble gestoßenen Altistin Almuth Herbst. Von diesen beiden auch darstellerisch hochbegabten Sängerinnen darf man noch einiges erwarten.