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Natascha Kampusch befreite sich vor genau vier Jahren nach achtjährigem Grauen in einem Kellerverlies. Jetzt hat sie ein Buch über ihr Leiden geschrieben: „3096 Tage“. Es ist ein erschütterndes Dokument.

Genau vier Jahre ist es her, dass Natascha Kampusch sich selbst befreite: Aus dem Kellerverlies, in das 1998 ein Kind verschleppt worden war, floh eine junge Frau. Jetzt hat sie ein Buch geschrieben über dieses „Leben“, dessen einzige Zeugin sie ist: „3096 Tage“ (Ullstein, 284 S., 19,95 Euro). Es ist ihr zweiter Befreiungsschlag. Denn „die Freiheit“, schreibt sie in ihren Schlusssatz, der ein Schlussstrich sein soll, „beginnt erst jetzt“.

Eine Aufarbeitung ist es geworden, ein erschütterndes Dokument, zugleich eine Rechtfertigung: Kampusch kämpft. Seit Jahren schon gegen das Misstrauen derer, die ihr das Grauen nicht glauben wollen, weil das Opfer zu stark wirkt. Für ihre Selbstbestimmtheit auf dem mühsamen Weg in ein neues Leben, aber auch für das Recht, ihren Peiniger als Teil davon zu betrachten. „Er war die einzige Person, die ich hatte.“

Misshandlungen, Schläge, Tritte

Eine Person, die ein Kind entführte, um eine Sklavin zu haben. Noch grausamer ist das, was Natascha Kampusch jetzt preisgibt, als das, was man bisher ahnte. Minutiös schildert sie körperliche Misshandlungen, Schläge, Tritte, verdrehte Gliedmaßen, offene Wunden, Kopfverletzungen, blaue Flecken, Würgemale, täglich neu. Als menschliches Monster erscheint dieser Wolfgang Priklopil, ein Psychopath mit Wahnvorstellungen, der sich verfolgt fühlt ausgerechnet von dem Mädchen, das er unterdrückt. Das er bestraft mit grenzenloser Gewalt, mit Wutausbrüchen, Licht- und Essensentzug. Und das er kleinhält, indem er es demütigt: als wertloses Wesen, das ohne die Liebe seiner Familie ist und ohne ihn nichts.

Angewidert liest man diese Zeilen, steht fassungslos vor der Frage: Wie hält ein Mensch das aus? Ein kleiner, einsamer zumal? Der schon vorher ein unsicheres Wesen war, der schon in seinem zerbrochenen Zuhause gelernt hatte, „dass von Erwachsenen keine Hilfe zu erwarten war“. Es ist nie leicht gewesen, diese langjährige „Beziehung“ zwischen Täter und Opfer zu begreifen, und es fällt Natascha Kampusch nicht leicht, sie zu erklären. Sie versucht es in Wiederholungen, mit den Worten der Psychologen, mit denen sie gearbeitet hat.

Wie sie sich mühte, sich nicht aufzugeben, indem sie bewusst mitspielte, sich Macht zu erhalten durch Verzeihen: „Ich versuchte zu verstehen, damit der Hass mich nicht zerfraß.“ Das Stockholm-Syndrom ist für sie kein Syndrom, es ist Strategie. „Indem ich ihn als Mensch sah, konnte ich selbst Mensch bleiben.“

Das Böse als Bezugsperson

Ausgerechnet der, den Kampusch nur den „Täter“ nennt, war der einzige in ihrem Leben, von dem sie abhängig war: das Böse als Bezugsperson. Sexuelle Übergriffe übrigens habe es auch gegeben, deutet die Autorin an, als „Teil der Drangsalierungen“. Mehr aber schreibt sie nicht, betont den „Rest an Privatsphäre“. Mehr aber war vielleicht auch nicht: Wenn Priklopil das Kind mit Kabelbindern im Bett an sich fesselte, wollte er „nur kuscheln“.

Manchmal wirkt dieser Text seltsam distanziert. „Ich wusste, dass ich mich nicht erdrüc­ken lassen durfte von meiner Angst.“ Natascha Kampusch hat sich immer gut ausdrücken können. „Worte haben mich gerettet“, notiert sie und am Ende des Buchs die tiefe Er­leichterung, „dass ich für all das Unaussprechliche, Widersprüchliche Worte gefunden habe“.

Natürlich hat Natascha Kampusch an Flucht gedacht; man hat sie oft gefragt, warum sie die Gelegenheiten nicht nutzte. Sie hat das erklärt mit der Schwäche des unterer­nährten Kindes, mit blanker Furcht – nun wird deutlich, was die nackte Angst aus dem Mädchen machte: Körper und Stimme versagten, die Träume, in denen Natascha rennt, springt – endeten ohne Ziel. Es gab nie ein Ankommen darin. „Der Fisch springt nicht über den Glasrand, dort lauert nur der Tod.“

Mit 18 aber springt Natascha, über den Zaun in die Freiheit. Sie landet in einer Welt, die ihr ähnlich fremd erscheint, wie die Scheinwelt, aus der sie floh. Und so versteckt sie über acht Jahre lebte – so öffentlich ist sie plötzlich. Das Interesse an ihrer Person, die Urteile und Ratschläge, wie sie ihr Leben führen soll, nun da sie darüber endlich entscheiden könnte, bauen ihr ein neues Gefängnis. Gar eine an­dere Identität empfehlen Berater, doch nichts erscheint ihr abwegiger als das: 3096 Tage hat sie gekämpft, sich selbst nicht zu verlieren – nun will sie Natascha Kampusch sein.