Essen.
. Siri Hustvedts Vater Lloyd starb im Jahr 2003. Er war Professor in der Norwegischen Abteilung des St. Olaf College in Minnesota; hier wuchs Siri auf, bis sie zum Studium nach New York ging. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Vaters wurde die Autorin eingeladen, auf dem Campus eine Gedenkrede zu halten. Sie hatte ihre Karteikarten in der Hand, blickte noch einmal über die kleine Schar von etwa 50 Freunden und Kollegen, öffnete den Mund - und begann zu zittern. „Meine Arme zuckten. Die Knie knickten ein. Ich zitterte so stark, als hätte ich einen Krampfanfall.“
Siri Hustvedt hatte sich mit dem Tod ihres Vaters im Roman „Die Leiden eines Amerikaners“ eindrucksvoll auseinandergesetzt. Nie zuvor aber hatte sie ein Problem, öffentlich zu reden. Die schöne, kluge, selbstbewusste Frau gilt den Amerikanern als First Lady der Literatur, die es längst mit der Prominenz ihres Ehemanns Paul Auster aufnehmen kann.
Warum zitterte sie? Dies fragt sich Siri Hustvedt öffentlich. Im Buch „Die zitternde Frau“, dessen deutsche Ausgabe soeben und noch vor der englischen erschien, macht sie sich selbst zum Forschungsobjekt. Schon in ihren Romanen zeigte Hustvedt eine teils nervige Tendenz zum Theoretisieren, ihre philosophischen und psychologischen Exkurse aber offenbarten stets fundiertes Wissen. Nun stürzt sie sich mit einer solchen Leidenschaft auf das Projekt der medizinisch-psychiatrischen Selbstdiagnose, dass der „Spiegel“ sie als „Nerd“ bezeichnet, als wissbegierigen Freak. Wahr ist, dass ihre theoretischen Abhandlungen dem Leser einige Ausdauer abverlangen.
„Ich bin die zitternde Frau“
Hustvedt am Rhein
Siri Hustvedts Buch „Die zitternde Frau - Eine Geschichte meiner Nerven“ ist im Rowohlt Verlag erschienen (240 Seiten, 18,95 Euro). Am Freitag, 29. Januar, liest Hustvedt auf Einladung des Heine-Hauses um 19.30 Uhr im Düsseldorfer Schauspielhaus. Karten kosten 15, ermäßigt zehn Euro.
Gleich zu Beginn bringt Hustvedt die Hysterie ins Spiel, dieses schöne Mittel weiblicher Stigmatisierung, deren Medizinhistorie sie nachzeichnet bis zur freundlichen Umbenennung in „Konversionsstörung“. Ihr Zittern betrachtet sie mit den Augen eines Psychologen, eines Psychiaters, eines Neurologen, sie nennt die Suche nach der zitternde Frau eine „Suche nach Perspektiven“. Darüber, schreibt sie, hält sie einmal eine Rede, während derer sie zittert; sie ist so praktischerweise Vortragende und Anschauungsobjekt zugleich. Doch sie redet weiter - und sie schreibt weiter: über Migräne-Anfälle, über ihre, sagen wir, Dünnhäutigkeit, über Gefühlsreaktionen auf Farben und Licht: „Wenn ich zu viele Gemälde anschaue, wird mir schwindlig und übel.“ Sie schreibt, dass sie sich einmal fühlte wie ihr sterbender Vater auf dem Krankenbett, sie spürte den Sauerstoffschlauch, ahnte die Nähe des Todes.
Verrückt, oder? Genau. Verrückter aber noch ist, dass sich keine Diagnose finden lässt für dieses Zittern, das manchmal bei einer Rede auftritt, aber nicht immer. Dann schließlich sucht sie Rat, und bekommt Überweisungen: vom Psychiater zum Pharmakologen zum Epilepsie-Spezialisten zur Neurologin. Eine Magnet-Resonanz-Tomografie bringt keinen Befund. Ein Medikament kann ihr Zittern für einige Zeit abstellen. Eine Ursache findet sich nicht.
Die Geschichte der zitternde Frau hat kein befriedigendes Ende im medizinischen Sinne, aber eines, das Siri Hustvedt zufrieden stellt. Hat sie doch am eigenen Beispiel „die ganze Zweideutigkeit von Krankheit und Diagnose“ aufgezeigt. Diese Geschichte ist auch eine der Emanzipation, in der sich eine Patientin die Deutungshoheit über ihre Diagnose und die erzählerische Kontrolle über ihre Krankengeschichte zurückerobert. Und so lautet der letzte, schlichte Satz Siri Hustvedts: „Ich bin die zitternde Frau.“