Essen. .
Ruhrgebiets-Kultur pur: Im September sollen 500 Brieftauben aus ganz Europa den Weg in die Kulturhauptstadt finden. Schon jetzt trainieren die Tiere in Essen. Phase I: 45 Minuten Freiflug täglich, dann „satt füttern“, einmal in der Woche Kotprobe.
„Kumpel, Fußball, Brieftauben”, so wie Horst Menzel kann man die Kulturhauptstadt ja auch sehen, „das ist eine Einheit hier im Ruhrgebiet.“ Menzel ist Präsident des Verbands Deutscher Brieftaubenzüchter, der natürlich in diesem Ruhrgebiet sitzt, denn, hätten Sie’s gewusst: Es gibt immer noch 20 000 Taubenväter im Revier, mit vielleicht zwei Millionen Vögeln.
Deshalb muss diese Kulturhauptstadt auch ihren Vogelflug kriegen: 500 Tauben schicken sie am 18. September in Würzburg auf den Weg, 300 Kilometer sollen sie dann fliegen und landen – in Essen auf Zollverein, dem Zentrum von 2010, wo sonst. Denn hier hat der Verband samt Förderverein seine Heimat und den gefiederten Sportlern sechs Schläge gebaut: „Mülheim“, „Bochum“, „Oberhausen“...
45 Minuten Freiflug täglich, danach „satt füttern
Ursprünglich war da mal Ordnung drin, aber eben sind drei aus „Bochum“ „Oberhausen“ aufs Dach gestiegen, ein paar Bottroper sind unlängst nach „Gelsenkirchen“ umgezogen, vermutlich haben sich auch Mülheimer untergemischt – doch im September finden sie alle nach Essen: Die Tauben haben die Sache schon begriffen mit der „Metropole Ruhr“. Obwohl sie von Züchtern aus ganz Europa kommen, die mit dem weitesten Weg aus Gran Canaria.
Derzeit sind sie in Phase I: 45 Minuten Freiflug täglich, danach „satt füttern“, einmal in der Woche Kotprobe, das Eiweiß ist schon abgesetzt. „Die müssen sich vorbereiten wie jeder andere Sportler auch“, sagt Horst Menzel, „die laufen ja auch nicht gleich Marathon.“ Und Josef Münch ist der Taubentrainer, „ich hab seit 60 Jahren welche“, man möchte sagen: Taubenvatta Jupp. Der Essener ist jetzt 75, und seine eigenen, die muss er „jetzt erst nachmittags trainieren“, denn morgens ist er in Katernberg, sieben Tage die Woche, drei Monate: täglich füttern, säubern, tränken.
„Die schönsten sind meine“
Und frei lassen. Zusammen mit dem Kollegen Hannes Hübhorst („wir machen die Tauben hier“): Sie stehen hinter den Käfigen mit ausgebreiteten Armen und sagen „Komm, komm“, meinen aber „Geh!“ Und die Täubchen, schlank, oft gefleckt, („Schecken mögen besonders die Kinder“) drängen hinaus und hinauf, „da geht einem doch das Herz auf“, sagt Siegfried Scharf. Der Bochumer hat acht Jungtauben geschickt, für jede zahlt er ein „Satzgeld“ von 200 Euro, und gestern hat er sie gesucht: „Die schönsten sind meine“, aber natürlich findet die keiner mehr wieder.
Erst am Flugtag, wenn sie sich niederlassen mit ihrem Sender auf der Käfigantenne, werden sie wissen, wem die Siegerin gehört; sie erkennen sie an der Nummer. Sie werden den Züchter feiern mit einem Auto und die schnellsten 50 Tauben versteigern. Die anderen werden verlost. Dann erst werden sie auch wissen, welche unterwegs verloren ging: durch Habichte oder Unfälle. Schon jetzt ist eine entflogen, sie nistete sich ein in Olpe; es hat ihr dort besser gefallen als im Ruhrgebiet.
Sie fliegen nach Landmarken, Autobahnen, Flüssen und nach Sonne
Aber so ein junges Täubchen ist eben auch nur ein Kind, „das muss erst lernen und fällt mal hin“, sagt Hannes Hübhorst, und in der Pubertät, da will es raus und weg und hat Sehnsucht nach woanders. Dafür ist er da, dass er ihnen den rechten Weg weist, jeden Tag ein Stückchen weiter ab Mitte Juli; sie werden Übungsflüge machen, ab Bochum und dann immer weiter, bis zu ihrem „friedlichen Wettstreit, wie es sich für das Symbol des Friedens gehört“, sagt Menzel. Dabei ist der Orientierungssinn der Taube ein ungelöstes Rätsel, „aber auch Teil der Faszination“. Man weiß inzwischen, sie fliegen nach Landmarken, Autobahnen, Flüssen, nach Sonne, Erdanziehungskraft und Geruch. 100 Stundenkilometer, mit Rückenwind, und „sie kommen wieder“, behauptet Hübhorst, 72, „wenn sie alles gesehen haben“. Aber wann welche und ob überhaupt, „das liegt an der Tagesform der Taube“, so Menzel. Und „das ist der Reiz.”
Und sowieso das Schönste, verrät Rentner Hübhorst, der als Kind seinem Vater das Hühnerfutter stibitzte und auf den Feldern ein paar Körner, um seine ersten Tauben zu füttern: „Wenn die kommen und alle stehen da und gucken in die Luft. Und jeder sagt, das ist meine, aber dann ist es die vonnem andern.“