Ruhrgebiet.

Das Revier hat an diesem Samstag den Ton angegeben: Von früh morgens bis um Mitternacht haben zehntausende Menschen im Ruhrgebiet beim Day of Song mitgesungen.

Gelsenkirchen. Der Tag, an dem die Menschen singen, beginnt – in tiefem Schweigen. 200 Menschen, vielleicht 300 stehen morgens vor fünf im Nordsternpark still um das Chorwerk Ruhr. Hören mit geschlossenen Augen den Vögeln zu, die ins Zwielicht schreien. Dann, nach einer Unendlichkeit von 20 Minuten, als die Sonne rot über den Wipfeln aufscheint, schwillt ein Summen und gibt dem Moment Magie; ein Sänger nach dem anderen tritt vor, formt mit Körper und Stimme Klang; fremd, schön, bewegend. Sie singen lange, auf ihre Art; dann ist es wieder ruhig. Und Rupert Huber, der Herr dieses bemerkenswerten Chores, sagt: „Die Sonne ist aufgegangen.“ Da löst sich das Staunen in Applaus. Es ist der „Day of Song“.

Waltrop. Das schmerzhaft laute Horn ist keine Musik in den Ohren, aber die Dance-Version des Steigers, die darunter verstummt, auch nicht: Am Hebewerk legt die erste Bootsparade ab. Ein Chor hat den „Seesack auf Nacken“ genommen, ein anderer behauptet: „Wir kennen jeden Aal von Wanne-Eickel bis nach Hä-härne“; man schunkelt schon um zehn. Fünf klingende Kutter überziehen den Kanal mit einer Kakophonie aus Kanons und Seemannsliedern. Vorn tuckert ein altes Dampfschiff, wegen Explosionsgefahr darf das E-Klavier nicht mit, also navigiert die Mannschaft nach Stimmgabel: „Singing all together just for joy.“ Alle singen gemeinsam zum Spaß. Das Lied des Tages, „Komm zur Ruhr“, gilt um kurz vor zwölf noch als „unsingbar“.

Das Radio vermasselt den Einsatz, die Sänger nicht

Ruhrgebiet. Unsingbar gibt’s nicht. Dass das Radio den Einsatz vermasselt, geschenkt: Kurz nach Mittag singt das Revier. In Essen auf dem Burgplatz, in Bochum am Rathaus, in Oberhausen auf der Kirmes und in Hernes Schleuse ganz unten: „Glück auf!“ Sie singen wie die Laien, den Kopf im Nacken, oder wie die Profis, das Notenblatt weit vorm Bauch. Sie winken mit den Noten oder stecken die Nasen tief hinein. Sie trällern, röhren, schmettern, knödeln, jubeln. Männerchöre mit Jacketts, Kinder mit bunten T-Shirts, Frauen mit Einkaufstaschen und Nachbarn mit Glockenspiel im Garten. Das Ruhrgebiet gibt den Ton an; es muss ja nicht immer der gute sein. Und dass ein Steiger schneller ist als der andere, soll es geben.

Recklinghausen. Am Kai des Stadthafens gibt es Shantys zum Fisch; den „Veermaster“ auf der Bühne, „Johnny“ am Anleger. „Jeder Hafen ist anders“, sagt eine Matrosin, dieser Tag ist ein Wunschkonzert. An Bord eines schwarz-gelben Dampfers schippern die Knaben der Dortmunder Chorakademie vorbei, Zielhafen: Schalke. Ein Gerücht, sie seien dort gelandet in Verdis „Gefangenenchor“. Am „Zitronenstrand“ dümpelt „Concordia Grullbad“ in einem Drachenboot – dabei ist es ein Männergesangverein, also gar kein Drachen an Bord.

Ruhrgebiet. Im Musiktheater tritt Gelsenkirchens Oberbürgermeister beim Orchester-Karaoke an: „Marmor, Stein und Eisen bricht.“ In Bochum singt ein Einkaufszentrum, in Oberhausen die Straßenbahn und in den Zügen Richtung Münster der Mädchenchor „Trixie“, Wanne-Eickel: „Bei uns zu Hause im Kohlenpott.“ Die Fahrgäste kurz nach Appelhülsen trauen ihren Ohren nicht: „Wir sind die Girls vom Revier!“ Haste Töne!

Am Ende ist „Seelenruhr“

Dortmund. Am Brunnen vor dem Eiscafé regnet es „Rain in May“, im Tunnel klingt eine Klampfe: „Summer in the city.“ Am Nachmittag ist es nicht nur ein Bild, sondern wahr: Musik liegt in der Luft. Sie singen an jeder Ecke, die Töne haben kaum Raum zwischen den Bühnen und treffen sich über der Fußgängerzone. „Heimatmelodie“ mischt sich mit „Chorkenziehern“ mit „Rachengold“ mit „Cantastrophe“. Babylon war Sprachengewirr, für den Musikmix steht Dortmund. Der örtliche MGV serviert „Aber bitte mit Sahne“, aber, mein lieber Herr Gesangsverein, da singen ja auch Frauen mit! Hunderte, die einander spontan unterhaken auf dem Alten Markt. In Uniform hat der Polizeichor zuvor mit vorgehaltener Kelle die letzten Schweiger zum Singen gebracht: „Fünf von acht“, verrät Dirigent Herbert Grunwald später, stimmten „Kein schöner Land“ an.

Gelsenkirchen. Als die Sonne nicht mehr mitsingt, kippt vielleicht die Stimme, die Stimmung aber noch lange nicht. „Ein schöner Tag voll Harmonie“, singen die 60 000 auf Schalke zum guten Schlussakkord. „Die ganze Metropole war freundlicher, liebenswerter als sonst“, notiert später einer, der dabei war. Der Tag, an dem die Menschen singen, endet kurz vor Mitternacht. Da verlassen sie die Arena mit einem letzten Kanon auf den Lippen. Dann ist, mit Grönemeyer, wieder: „Seelenruhr.“