Düsseldorf. Walter Jens, Siegfried Lenz, Martin Walser, Hans Werner Henze - nun ist auch eine NSDAP-Karteikarte von Dieter Wellershoff aufgetaucht. Der Literatur-Doyen macht "verstörende" Erfahrungen wie die, darum werben zu müssen, dass ihm geglaubt wird: ein Auftritt in der Düsseldorfer Altstadt.

Draußen vor dem Geburtshaus von Heinrich Heine in der Düsseldorfer Altstadt lärmt massenhaft der Wille zum totalen Amüsement. Eine Vorhölle des Vergnügens. Drinnen, bei „Müller & Böhm“, der schönsten Buchhandlung im ganzen Rheinland, breitet sich Stille aus, und sie klingt nach Anspannung. Dieter Wellershoff tritt aufs Podium, es ist der Abend jenes Tages, an dem die „Zeit“ seine NSDAP-Mitgliedsnummer in die Welt hinausposaunt hat. Seltsam: Vorhin, beim Bestellen am Tresen für Rotwein, Wasser und Kaffee, hat man Wellershoff seine 83 Jahre nicht die Bohne angemerkt - erst jetzt, da er oben sitzt, ist die wahre Würde des Alters in ihn gefahren. Nein, er wusste wirklich nichts von seiner Parteimitgliedschaft. Und es ist ihm unangenehm, „dass man darum werben muss, dass einem geglaubt wird.“

Eine Instanz in ungewohnter Rolle. Er ist doch ein Doyen der rheinischen, der deutschen Literatur, der es durch Partyabstinenz, Eitelkeitsverzicht und notorischen Eigensinn zur Einzelfigur brachte. Was er in diesen Tagen erlebt, nennt Wellershoff „ein bisschen verstörend.“ Und seine kantig gewordenen Züge versteinern bei den Worten „Das hat keinen Anschluss an die Erfahrung mit mir selber.“

Vorzeige-Intellektuellen mit braunen Parteikarten

Die Zahl der deutschen Vorzeige-Intellektuellen, deren braune Parteikarten seit zwei Jahren aus dem Bundesarchiv auftauchen, ist allerdings Legion. Dieter Hildebrandt (Jahrgang 1927) und Siegfried Lenz (Jg. 1926) vermuten eine Partei-Aktion dahinter, Martin Walser (Jg. 1929) glaubt an einen vorwitzigen Hitlerjungen. Und Hans Werner Henze (Jg. 1926) fällt angesichts seiner ungeahnten NSDAP-Nummer nur der Begriff „Phantommitgliedschaft“ ein. Steckt ein heimlich organisierter Masseneintritt dahinter? Ein Geburtstagsgeschenk an Hitler, wie das oft rückdatierte Eintrittsdatum vom 20. April 1943 nahelegt? Manche Historiker weisen auf den anhaltenden Mangel an Beweisen hin. Andere, prominentere wie Hans Mommsen (Jg. 1930) oder Hans-Ulrich Wehler (Jg. 1931) trauen der NSDAP eine Verbreiterung der Parteibasis durch jugendliche Karteileichen durchaus zu.

Auch Dieter Wellershoff (Jg. 1925) glaubt an einen „Wettbewerb der Gaue“ auf Karteikarten; man wollte wohl einen „Heldenmut und Opferwillen der Jugend“ dokumentieren, „den es so nicht gab.“ Was es 1943/44 gab, bei Wellershoff und anderen, war die Sehnsucht, aus der „uninteressanten Welt zu Hause“ aufzubrechen in „das große Abenteuer“ draußen, das Alfred Andersch einmal „Reiseunternehmen Wehrmacht“ genannt hat: „Hoffentlich“, sagte damals ein Schulfreund zu Wellershoff, „dauert der Krieg so lange, dass wir auch noch Soldat werden.“ Soldat - nicht Parteigenosse: „Das waren doch braune Bonzen und Heimatspießer. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, da einzutreten. Ich erinnere mich an einen dicken Studienrat in brauner Uniform, der bei uns an der ‚Heimatfront‘ Geld sammeln kam. Mein Vater dagegen war schlank und Major bei der Luftwaffe – da wusste ich doch, was ich gut fand!“

Nein, in der Hitlerjugend von Grevenbroich, wie manche Zeitungen jetzt behaupten, war er auch nicht. Wellershoff, der noch heute sein „Einmaleins“ mit einem echt niederrheinischen „ei“ färbt, war bis 14 im Jungvolk. Und anschließend Jungvolk-Führer, „weil man dann nicht in die HJ musste“. Ja, zur Panzerdivision „Hermann Göring“ hat er sich mit 17 freiwillig gemeldet, um nicht zur SS zu kommen. Und dann gab es nur noch den einen Satz, der immer geholfen hat: „Das ist der Krieg.“ Keine Alternative. An der Front hat der alltägliche Lebensraum einen Durchmesser von 300 Metern. Das ist der Krieg. Für Erschießungskommandos fanden sich seltsamer Weise immer genügend Freiwillige. Das ist der Krieg. Und dass man bei Mädchen „überhaupt nur mit Uniform eine Chance hatte, und noch mehr mit Orden“. Das ist der Krieg. Ein Feld voller verwunderter Soldaten, wimmernd, schreiend, brüllend, bis sie endlich tödlich getroffen wurden. Das ist der Krieg.

Neues Buch soll Anfang September herauskommen

Bis er vorbei ist und Dieter Wellershoff 46 sein Abitur nachholt, studiert und dann beim Schreiben von nächtlichen Schulfunk-Programmen über Psychologie, Existenzialismus und Adorno „ein zweites Studium“ absolviert. Als Biograf und Herausgeber der bis heute gültigen Werkausgabe von Gottfried Benn, als Lektor von Heinrich Böll agiert er meist aus der zweiten Reihe heraus, auch wenn die Titel solcher Romanerfolge wie „Fürsorgliche Belagerung“ von ihm stammen, auch das längst zum geflügelte Wort gewachsene „Gruppenbild mit Dame“ (das, schmunzelt Wellershoff, eigentlich erst durch Maggie Thatcher so richtig bekannt wurde…). Wellershoff wird in den 60er Jahren Vater eines neuen Realismus der „Kölner Schule“ mit Ausnahme-Literaten wie Nicolas Born bis Rolf Dieter Brinkmann. Als fleißiger Essayist und Redner aber geht Wellershoff nach vorn, und als die Große Koalition in Bonn die Notstandsgesetze einbringt, warnt er vor einer neuen Diktatur: „Das“, sagt er heute souverän, „ war eine Fehleinschätzung, emotional gesteuert und von Erfahrungen getrieben.“ Ein Eingeständnis, das ihn sichtlich schmerzt. Würde es so einem nicht ungleich leichter fallen, eine Jugendsünde wie einen Parteieintritt mitten im totalen Staat einzuräumen?

Am Ende liest Dieter Wellershoff, dem erst das Alter mit seinem „Der Liebeswunsch“ einen Bestseller-Roman bescherte, aus seinem neuen Buch. Anfang September soll es herauskommen, ein Roman über einen Pfarrer, der eine Erfahrungs- und Lebenskrise durchmacht. Wie denn überhaupt Literatur, sagt der Literat Wellershoff „die Darstellung von Krisensituationen ist, von Differenzen, Konfrontationen, die letzte Spiegelung von Lebenswirklichkeit.“ Bis in den Titel des neuen Romans hinein: „Der Himmel ist kein Ort“. Und die Hölle muss heute Abend auch draußen bleiben.