Die Kaderpolitik in der NSDAP von 1942 bis 1944. Das Ansehen der Nationalsozialisten sank in den ersten Kriegsjahren. Namenskarussell ließe sich nach Hildebrandt, Lenz und Walser beliebig fortsetzen. Ein Essay
Mit der Denunzierung von Martin Walser, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz und anderen prominenten Persönlichkeiten der Bundesrepublik als Mitglieder der NSDAP hat die Zeitschrift Focus einen "Sturm im Wasserglas" ausgelöst, der an die bekannte Diskussion über Martin Broszat, Walter Jens und Peter Wapnewski anknüpft.
Das Namenskarussell, das damit in Gang gesetzt wird, ließe sich beliebig fortsetzen, wäre nicht durch die Beschränkung der Benützung der im Bundesarchiv befindlichen Mitgliederkartei der NSDAP ein gewisser Riegel vorgeschoben, abgesehen von der Schwierigkeit, die Millionen von Karteikarten systematisch zu überprüfen (die im übrigen nicht vollständig überliefert sind).
Die Debatte bezieht sich in erster Linie auf die Parteiaufnahmen von HJ-Angehörigen (Hitlerjugend) der Jahrgänge 1926 und 1927. Deren politische Hintergründe sind hingegen bislang kaum analysiert worden.
Schon am 11. Januar 1942 erteilte Martin Bormann die Anweisung, dass jeweils 30 Prozent der HJ-Angehörigen in die Partei aufgenommen werden sollten. Die Aufnahme in die Partei war an die Bedingung geknüpft, dass sie "durch ihr Verhalten und ihre Einsatzbereitschaft in der Hitler-Jugend" für den Dienst in der Partei "besonders geeignet" seien. Sie sollte freiwillig sein, vom jeweils zuständigen Kreisleiter überprüft werden, und es bedurfte dazu eines vom Bewerber unterschriebenen Aufnahmeantrags. Am 7. Januar 1944 wurde die Altersgrenze für Neumitglieder auf 17 Jahre herabgesetzt.
Im übrigen galt eine generelle Aufnahmesperre. Formell sollte die Aufnahme neuer Mitglieder am 20. April vorgenommen werden. Die Anfang 1944 dann auf den 27. Februar festgelegte feierliche Aufnahmeprozedur kam in den seltensten Fällen zustande. Die formelle Stichwahl von Hitlers Geburtstag stellte eine Hommage an den Diktator dar, war jedenfalls in den Augen von Martin Bormann ein symbolischer Schritt, das in den ersten Kriegsjahren abgesunkene öffentliche Ansehen der NSDAP zu heben. Wie weit sich Hitler selbst um die Kaderpolitik gekümmert hat, ist nicht bekannt. Sie zielte darauf ab, eine Verjüngung der Mitgliedschaft zu erreichen und die Partei wieder zu einer schlagkräftigen Eliteorganisation zu machen.
Das enorme Mitgliedswachstum, das die NSDAP nach der Aufhebung der Aufnahmesperre von 1933 auf mehr als 7,8 Millionen anschwellen ließ, änderte nichts an dem empfindlichen Personalmangel, der nach 1941 eintrat. Gleichzeitig suchte die Parteikanzlei, die Aufgaben-felder der NSDAP beständig auszuweiten und auf mittlere Sicht die innere Verwaltung und die militärische Führung zu übernehmen. Zwar gelang es Bormann, die große Mehrheit der Hoheitsträger der Partei, also der hauptamtlichen Funktionäre, trotz der sich verschlechternden militärischen Lage vom Wehrdienst freizustellen, aber das galt nicht für die große Masse der Parteimitglieder. Während der Wehrdienstzeit ruhte die Mitgliedschaft und die Unterstellung unter die Parteiführung.
Damit verschärfte sich der Mangel an einsatzfähigem Führungspersonal von der Gauleiterebene bis zu den Ortsgruppen, zumal der Parteiapparat im Altreich immer wieder Funktionäre für eine Verwendung in den besetzten Gebieten freigeben musste. Daraus erklärt sich die Ent-scheidung, das Eintrittsalter für HJ-Mitglieder in die Partei zu senken und schließlich die Heranziehung der Jahrgänge 1926 und 1927 vorzusehen, wobei die Konkurrenz zur SS einwirkte. Allerdings war das nur eine Aushilfe, da die Neumitglieder über kurz oder lang der Wehrpflicht unterlagen. Auch der auf den NS-Ordensburgen mit großer Mühe herangezogene Parteinachwuchs meldete sich ohnedies sogleich zur Waffen-SS oder zur Wehrmacht.
Diese Konstellation erklärt, warum die vorgeschriebenen Anträge zur Aufnahme von HJ-Mitgliedern in die Partei weitgehend schematisch vollzogen wurden. Die Betroffenen besaßen keine reale Möglichkeit, sich dieser Manipulation zu widersetzen. Denjenigen, die sich an die Anmeldung zur NSDAP nicht erinnern oder eine aktive Beteiligung bestreiten, Falschaussagen zu unterstellen, ist absurd. Umgekehrt muss betont werden, dass der Eintritt in die Partei offenbar von den Betroffenen nicht in seiner moralischen Tragweite wahrgenommen wurde und bei ihnen die bürokratische Prozedur, an der die Parteikanzlei starr festhielt, in Vergessenheit geriet. Die Vorschrift, den Parteieintritt an die persönliche schriftliche Zustimmung zu binden, dürfte angesichts der chaotischen Verhältnisse des letzten Kriegsjahres in vielen Fällen umgangen worden sein, zumal die Bewerber nach der Antragstellung zur Wehrmacht, Waffen-SS und Organisation Todt eingezogen wurden und ihre präsumtive Parteimitgliedschaft ruhte. Dieser Vorgang stellt einen Indikator für die sich abzeichnende innere Auflösung der NSDAP dar, der Bormann und der Reichsorganisationsleiter, Robert Ley, mit größtem bürokratischem Aufwand entgegen zu treten suchten. Er beleuchtet die nachlassende Bindekraft des Regimes und eine sich abzeichnende Krise der NSDAP, die durch den fragwürdigen Rückgriff auf die 17- und 18-Jährigen ihren Bestand und ihre Aktionsfähigkeit zu sichern hoffte und dadurch der militärischen Rekrutierung zu Kriegsende vorgriff. Bormanns Kaderpolitik mutet eigentümlich realitätsfern an und hatte keine ernstliche politische Bedeutung mehr.
Mit Rolf Hochhuth betrachte ich die Aufdeckung der angeblichen oder tatsächlichen Parteimitgliedschaft als schäbige Spitzelei. Der Sachverhalt, dass die jugendliche Nachwuchselite der NSDAP ihre beantragte Parteizugehörigkeit vergessen, nicht mehr wahrgenommen oder verdrängt hat, unterstreicht den Grad von deren Ansehensverlust im letzten Kriegsjahr.
Symbolischer Schritt als eine Hommage an den Diktator