Essen. Tilman Jens hat ein Buch über seinen Vater Walter Jens geschrieben. Er setzt Demenz in Analogie zur NS-Verdrängung und überschreitet dabei Grenzen.

Man muss nicht über alle Bücher schreiben. Über das unbegreifliche Buch von Tilman Jens möchte man schweigen, doch das ist nicht möglich; denn es befasst sich mit dem Schicksal des Rhetorikers Walter Jens. Mit dem Vater des Verfassers. Als erstes muss man sagen, dass dieses Buch der Bild-Zeitung zum teilweisen Vorabdruck überlassen wurde. Unter der rot unterlegten Zeile „Demenz” las man von Walter Jens und seinem Babyfon; von Walter Jens, der weint und seine Frau schlägt.

„Demenz”, so heißt das Buch, aber es ist nicht nur das Dokument eines Verfalls. Hier kämpft einer seine persönliche Schlacht: der Sohn gegen den lebenslang übermächtigen Vater. Dem kranken alten Mann wird öffentlich bescheinigt, dass seine Zeit abgelaufen ist, und, nicht genug: Der Leser wird konfrontiert damit, dass Walter Jens als alter gesunder Mann Sterbehilfe eingefordert hat, wenn es so weit wäre.

Krankheit als körperlicher Reflex

Die Geschichte ist nicht neu. Im März 2008 erschien in der FAZ, kurz vor Walter Jens' 85. Geburtstag, ein Artikel seines Sohnes. Er machte die Krankheit des Vaters öffentlich und verwies darauf, dass kurz vor ihrem Ausbruch Jens' Zugehörigkeit zur NSDAP bekannt geworden war. Der Sohn entwarf die mystische These, die Krankheit sei ein körperlicher Reflex auf die Unfähigkeit, den Fehler von damals zu erinnern.

Im Buch geht er weiter; er veröffentlicht, was nicht bekannt sein muss, auch wenn sein Vater ein geachteter Intellektueller ist. Er führt ihn vor als kaum mehr achtbaren Kretin. Das ist unerträglich. Es fehlt auch nicht das bestürzende Illustrierten-Bekenntnis von Inge Jens, dies sei nicht mehr der Mann, den sie geliebt habe. Dass der Sohn Betroffenheit beteuert und anhaltende Liebe, klingt merkwürdig.

Der Sohn fühlt sich betrogen

Tilman Jens scheut weitere Enthüllungen nicht. Sein Vater, erfahren wir, hat auch seine Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Studentenbund verschwiegen. Sein Sohn hat das Recht, dies öffentlich zu machen. Aber muss er das jetzt tun, wo der Vater mit Puppen spielt? Und muss man gleichzeitig erfahren, dass der alte Mann Windeln trägt?

Die Unfähigkeit einzuräumen, dass auch der Aufrechte etwas getan haben kann, das nicht zum Aufrechten passt – es hat etwas Unmenschliches. Tilman Jens hat seinen Vater bewundert, jetzt sieht er sich betrogen. Man kann das verstehen; nicht, dass er mit diesem intimen Gefühl in die Öffentlichkeit geht. Ihr war Walter Jens kein Vater, sie muss ihn nicht bewältigen, oder anders. Sie braucht dieses Buch nicht, das betroffen macht und stellvertretend beschämt. Ein großer Geist wird mit selbstgerechter Pose und perfider Präzision in seinem traurigen Endstadium protokolliert. Vergessen wir nicht, dass wir alle so enden können, wenn uns nicht die Gnade des rechtzeitigen Todes ereilt.

Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater. Gütersloher Verlagshaus, 141 Seiten, 17,95 Euro

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