Essen. China hat als Gastland der Frankfurter Buchmesse – 14. bis 18. Oktober – eine Kontroverse ausgelöst, die leicht ablenken könnte vom Kern des Austauschs: der Literatur als Vermittler einer vielfältigen Kultur.

Drachenbahn

Als die Eisenbahn 1899 die Provinzstadt Gaomi erreichte, glaubten einige, es handele sich um ein riesiges Tier; sie versuchten, dieses Tier mit Stroh und schwarzen Bohnen zu einem Teich zu locken, in dem es ertrinken sollte. Mo Yan, 1955 in Gaomi geboren und der bekannteste Romancier in China („Das rote Kornfeld”), hat sich von überlieferten Geschichten wie diesen inspirieren lassen zu einem volkstümlichen, bildreichen Roman: „Die Sandelholzstrafe” (Suhrkamp, 651 Seiten, 29,90 Euro) erinnert an die deutsche Kolonialgeschichte Chinas, die einer stillen, selbstgenügsamen Welt Hoffnung, Schrecken und märchenhaften Fortschritt brachte.

Hungerjahre

Wie dick ist die Reissuppe? Werden auch die Kinder satt? Dies sind die Sorgen der Bauern, täglich neu. Landreform, Koreakrieg und die „neuen Werte” treffen Anfang der 50er-Jahre ein archaisches China. Wie der Hunger eine Dorfgemeinschaft zerstört, beschreibt Eileen Chang in ihrer Novelle „Das Reispflanzerlied” (Claassen, 224 Seiten, 19,90 Euro) in klaren, hellsichtigen Sätzen – ein Klassiker moderner chinesischer Literatur aus dem Jahr 1955, nun auf Deutsch neu aufgelegt. Eileen Chang, 1920 in Shanghai geboren, 1995 in Los Angeles gestorben, wurde postum weltbekannt: Regisseur Ang Lee verfilmte 2007 ihren Roman „Gefahr und Begierde”.

Heldenqual

1979 in der chinesischen Provinz: Die junge Shan soll hingerichtet werden, sie ist Gegnerin des Regimes. Ihr öffentlicher Tod wird das Leben der Kleinstadtbewohner berühren, verändern. Die Autorin Yiyun Li, die seit 1996 in den USA lebt und dort Kreatives Schreiben unterrichtet, hat bereits mehrere Preise erhalten. Ihr Roman „Die Sterblichen” (Hanser, 384 Seiten, 21,50 Euro) dringt ein in einen finsteren Mikrokosmos, in dem ein verkrüppeltes Mädchen wie eine Sklavin gehalten und eine Leiche geschändet wird. In dem Mütter ihre Kinder für die „gute Sache” opfern, auf dass sie den Heldentod sterben. Eindringlich.

Staat im Koma

Seit zehn Jahren lebt Ma Jian im Londoner Exil. Mit Abstand und Abscheu betrachtet er aus dieser Distanz ein Ereignis, das sich der Welt ins Gedächtnis brannte: das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989. Sein Roman „Peking Koma” (Rowohlt, 928 Seiten, 24,90 Euro) erzählt aus der Perspektive eines ehemaligen Biologiestudenten, der angeschossen wird und im Wachkoma liegt. Die Erinnerungen an seine Kindheit, an die Studentenbewegung, an die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz führen zwangsläufig zu der Welt, die er nun (vom Bett aus) erlebt. Ein Epos, das wortgewaltig und ausufernd selbst das grauenvollste Detail nicht scheut.

Tod im Blut

„Die Zeit war wie ein Leichnam. Das Gras auf der Ebene war vertrocknet.” Ein zwölfjähriger Junge findet erstaunliche Worte für das Leben in der Provinz Henan, Anfang der 90er-Jahre. Ein toter zwölfjährige Junge, um genau zu sein, aus Rache vergiftet von den Nachbarn: Der Vater des Jungen ist „Blutchef” – und verantwortlich dafür, dass hunderte, tausende Menschen mangels Hygiene durch infiziertes Blut an Aids starben. Der Schriftsteller Yan Lianke erzählt in „Der Traum meines Großvaters” (Ullstein, 368 Seiten, 22,90 Euro) so lakonisch wie berührend die Geschichte eines realen, bis heute vertuschten Skandals. Der Roman ist in China verboten.

Schriftzeichen

Mit dem Roman „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin” gelang Dai Sije ein Welterfolg: Er beschrieb, wie er in den 70er-Jahren zur kulturellen Umerziehung in ein Bergdorf in Sichuan geschickt wurde. Nun schickt der Autor, der seit den 80er-Jahren in Frankreich lebt und auf Französisch schreibt, eine Pariser Sinologie-Studentin nach Peking und tief in die chinesische Geschichte: Gemeinsam mit einem Gemüsehändler sucht sie eine uralte Schriftrolle, die die Anfänge des Buddhismus offenbaren soll. „Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht” (Piper, 320 Seiten, 19,95 Euro) ist poetisch, geheimnisvoll, anrührend und – versöhnlich.

Nacht im Zoo

Ihre Figuren heißen ABC oder Schauspieler, ihre Erzählweise gleicht einem Filmskript und ihre Sprache ist, nun ja, unverblümt: Mian Mian gilt als das Bad Girl der chinesischen Literatur. Die 1970 Geborene ist nicht nur fleißige Chronistin des Nachtlebens ihrer Heimatstadt Shanghai, sondern selbst Partyveranstalterin. Im aktuellen Büchlein „Panda Sex” (Kiepenheuer&Witsch, 176 Seiten, 7,95 Euro) erzählt sie von den üblichen Bindungslosigkeiten ihrer Generation, auf eine immerhin recht frische Art: ���Sie waren beide sehr behutsam und dankbar. Wenn sie gerade keinen Sex hatten, waren sie nett zueinander. Alles schien absolut perfekt.”

Bruderküsse

Schräg, witzig, saftig, rasant - der Pekinger Autor Yu Hua ringt dem modernen China eine Komik ab, die man kaum vermuten würde. „Brüder” (S.Fischer, 768 Seiten, 24,95 Euro) erzählt von Li und Song, die auf je eigene Weise „ganz der Vater” sind und nach den Schrecken der Kulturrevolution im neuen Land ihr Glück versuchen. Li ist gerissen und geschäftstüchtig, er macht mit getragenen Anzügen aus Japan ein Vermögen. Song ist verträumt, schöngeistig und vom Pech verfolgt. Dass Song die Dorfschönheit Lin Hong ehelicht, erweist sich folgerichtig als Irrtum, der von Bruder Li großzügig korrigiert wird. Schließlich kennt er sich aus mit Zweitverwertungen.

Wie es früher war

Chinesen lächeln immer und sprechen nicht gern von sich. So lautet ein westliches Vorurteil, das die Journalistin Xinran nun auf eindrucksvolle Weise widerlegte: In ihrem Buch „Gerettete Worte” (Droemer, 619 Seiten, 19,95 Euro) trägt sie Erinnerungen einer Generation zusammen, die der facettenreichen Landesgeschichte ein Gesicht geben. Medizinfrau, Flickschusterin oder Akrobatin geben Auskunft: über ihren Versuch, die Kulturrevolution zu überleben, „nationale Würde” zu bewahren – und ein Erbe, das zunehmend verachtet wird. „Unsere Kinder verstehen uns nicht”, klagt etwa Lehrerin Sun: „Sie finden es dumm, immer nur für andere zu leben.”

Wie es ganz unten ist

Vier Jahre hat der Oppositionelle Liao Yiwu in Chinas Gefängnissen zugebracht. Dort lernte er „einfache” Leute kennen, eine Schicht, die er nun eindrucksvoll porträtiert: „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser” erzählt „Chinas Gesellschaft von unten” (S. Fischer, 544 Seiten, 22,95 Euro). Eine Prostituierte und ein Toilettenmann zeichnen ebenso wie ein ehemaliger Rotgardist oder ein reueloser Menschenhändler das Bild eines Gegenwarts-Chinas, das von Gleichheit und Gerechtigkeit weit, weit entfernt ist. Das kann dem Regime kaum gefallen. Tatsächlich ist keines von Liao Yiwus Büchern je offiziell veröffentlich worden; die Reise zur Frankfurter Buchmesse wurde ihm verweigert.