Essen. Der deutsch-bosnische Bestseller-Autor begeistert mit klugen Short Stories der Gegenwartsliteratur voller Rätsel, Witz und Schönheit.
Wem der Zufall noch nie Doppelkopf mit einem Reichsbürger beschert hat: Saša Stanišić erzählt, wie es sich anfühlt. „Er verlor auch dann, wenn wir ihn gewinnen ließen.“ Oder wie dramatisch es für einen Top-Juristen ist, dem Sohn unentwegt beim Piraten-Memory zu unterliegen. Und wie er aus den Augen einer greisen Witwe in einer simplen Aufzählung die ganze Absurdität der Gentrifizerung hinwirft: „Arbeiterviertel, Gastarbeiterviertel, Studentenviertel und jetzt Airbus-Ingenieurviertel“.
Das Komplizierte: einfach – das Einfache: kompliziert. In dieser Woche ist ein Band mit neuen Erzählungen erschienen, der über seinen enormen Titel hinaus fasziniert: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ . Wie immer ist es auch ein Buch über Stanišić, die kindliche Loser-Gemeinschaft ist eine zarte Klammer. Vor allem ihre in sengender Weinbergshitze ausgekochte Idee einer Maschine, die fühlen lässt, wie das Leben einmal wird. Ein „Anproberaum“. Ganz am Ende wird er ein paar Mal die Schleusen öffnen.
Dazwischen lauert die ganze Kunst eines Mannes, der als Junge nach Bosnien kam, kein Wort Deutsch konnte und heute, mit 46, einer der erfolgreichsten, international bekanntesten Gegenwartschriftssteller (übersetzt in 40 Sprachen!) der Bundesrepublik ist. Migration, natürlich auch sie sein Thema. Sätze, die so schlicht daherkommen und von so schmerzhaft Schärfe sind: „Der Vater hatte in der Türkei irgendwas mit Büchern studiert, also fuhr er hier einen Lkw.“ Und eine Frage wie „Hat in Österreich je eine Putzfrau eine Kolumne in einer Zeitung gehabt?“ hat vielleicht auch noch keiner vor Stanišić gestellt – auch wenn wir alle die Antwort kennen.
Das Dutzend literarischer Miniaturen reist durch alle Stände. Und immer strömt uns alles entgegen, was sie ausmacht, ihr Duft, ihre Farben, die Menschen, die sie hervorbringen. Es gibt fleckige Jogginghosen und die ungemütliche Stille Wiener Großbürgerbibliotheken. Wacher, wahrnehmungsintensiver beschreiben wenige Autoren die Menschen in Westeuropa. Da gelingen einem Menschenbildner Charakterstudien am Beispiel der Mülltrennung. Da streift sein Blick verachtungsvoll die schönen neuen Bürowelten mit ihren stillen Glaskästen und schreienden Absurditäten. Und wo er uns erschüttert beim gemeinsamen Blick in Abgründe, da hält er gleich die nächste Eulenspiegelei aus dem Milieu der politisch Korrekten feil: „Man kann doch nicht Siedler spielen bei der ganzen Scheiße im Nahen Osten!“
Der neue Stanišić ist der alte im wundervollsten Sinne. Seine Helden sind nie ganz normal, aber doch welche von uns; Angela Merkel und Miro Klose haben extrem charmante Gastauftritte. Es regnet Zynismen und dann lässt er doch die Sonne wärmster Menschlichkeit für uns aufgehen: Was der Wahl-Hamburger in der titelgebenden Erzählung über eine in die Jahre gekommene Ehe sagt, zählt zum anrührendsten, was man über dieses Thema seit langem hat lesen dürfen.
Die zwölf, vielfach miteinander korrespondierenden Geschichten sind nicht zuletzt Short Stories alter Schule: Ihr Beginn so offen wie das Ende. Und es gibt keine Figur, von der wir nicht noch gerne sehr viel mehr erfahren hätten.