Ahlen. Immer wieder erschüttert der „Totalkünstler“ Timm Ulrichs Schein-Gewissheiten. Nun ist in Ahlen von ihm ein Schaf im Wolfspelz zu sehen. Und mehr

Ein lebensgroßes Schaf – im Wolfspelz! Da muss man schon sehr genau hinschauen, um drauf zu kommen. Aber diesem „Wolf“ steht ein weißes Schaf Auge in Auge gegenüber, ihm aber blitzen vier Reißzähne aus dem Maul. Und der Widerrist geht hinten auch so wölfisch schräg runter… Die Tier-Präparate mit Echtfell, die Timm Ulrichs da als Auftakt seiner Ausstellung im Kunstmuseum Ahlen postiert hat, spielen auf die Bibel an, Matthäus 7,15: „Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe“. Übrigens die einzige Leihgabe der Ausstellung, sie stammt aus dem Dortmunder Ostwall-Museum, wo man ja auch über Ulrichs’ müde gewordenen Stuhl mit den eingeknickten Beinen verfügt.

Timm Ulrichs stellte sich als „Erstes lebendes Kunstwerk“ aus

Ob aber Timm Ulrichs der richtige Prophet ist? Seit sechs Jahrzehnten versorgt der Mann die Kunstwelt mit anhaltenden Irritationen, hat sich selbst mehrfach (!) in einer Vitrine als „erstes lebendes Kunstwerk“ ausgestellt (etwa im Karl Ernst Osthaus Museum Hagen), hat beim Vorläufer der Art Cologne 1975 mit Blindenstock, Drei-Punkte-Binde, Sonnenbrille und dem Schild „Ich kann keine Kunst mehr sehen“ demonstriert. Oder hat einen „Künstlerhaar-Pinsel“ aus dem eigenen spärlichen Schopf bestückt. Und hat vorgeschlagen, ein Denkmal für den 17. Juni 1953 aus lauter gestürzten SED-Denkmälern in einem Riesen-Käfig zu errichten.

Timm Ulrichs setzt seit 1959 als selbst ernannter Totalkünstler die Dada-Tradition der ironischen Sinnzerstörung fort. Von 1972 bis 2005 lehrte der Mann, der 1966 sein Architekturstudium abgebrochen hatte und fortan seiner Erkenntnis „Künstler wird man durch Entschluss, nicht durch Talent“ gefolgt war, gar als Professor für Bildhauerei und Totalkunst an der Kunstakademie Münster. Und nun richtet ihm das Kunstmuseum im westfälischen Ahlen, das in diesem Jahr 30 Jahre alt wird und zu den Schatztruhen unter den kleinen Museen im Lande gehört, eine ansehnliche Werkschau aus. Es verfügt über die größte Timm-Ulrichs-Museumssammlung weltweit. Was wiederum gut zum begrenzten Anschaffungs-Etat des Hauses passt, denn Ulrichs-Werke sind grundsätzlich Auflagen werke („Multiples“), die in der Regel nur dreistellige Summen kosten. Seine Rache am Kunsthandel, den er vielleicht besonders gern unterläuft, weil der ihn in den 60er-Jahren so gering schätzte.

Timm Ulrichs: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen“

Die legendäre Gedenktafel aus Carrara-Marmor mit der ewigkeitssichernden Aufschrift „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen“ gehört ebenso zu der von Anna Luise von Campe klug kuratierten Ausstellung wie ein Foto der inzwischen nur noch blass vorhandenen „The End“-Tätowierung auf einem Augenlid für den Fall seines Todes. Der Holzkasten mit Hunderten Instrumenten für ein „Konzert der fallenden Stecknadeln“ gibt keinen Mucks von sich wie das Bildrückseitenbild, das auf der Vorderseite ein Schwarzweiß-Foto einer Rückseite zeigt. Augenöffnend wie die drei Rosen (eine echte, eine aus Plastik, eine als Foto), die Gertrude Steins berühmten Satz „A rose is a rose is a rose“ als postfaktische Setzung entlarven. Im heutigen Trendsport Mythenzertrümmern war Timm Ulrichs schon früh ein Großmeister.