Essen. „Man muss nach unten treten“: Lisa Roys Buch „Keine gute Geschichte“ spielt im Essener Norden – ein illusionsloser Blick auf die Gesellschaft.
Eine Mischung aus Spoiler und Trigger-Warnung zum Buchtitel zu machen, darauf muss man auch erst einmal kommen: „Keine gute Geschichte“ von Lisa Roy hat denn auch keine Produktenttäuschung zu bieten, die Story ist alles andere als aufmunternd: Eine junge Frau, die nach steilem Aufstieg im Düsseldorfer 2.0-Werbemilieu ihre Depressionen in einer Klinik bekämpfen musste, soll nun ihrer gestürzten Großmutter durch den Alltag helfen und kehrt dazu an den Ort ihrer Kindheit zurück.
Das ist der Essener Norden („nur wenige Minuten Fußweg nach Gelsenkirchen“) mit seinen architektonischen Zumutungen und den einschlägig geprägten „braunen Menschen vor grauen Fassaden, deren Gemütslage Lisa Roy illusionslos beschreibt: „Ohne Hoffnung auf Integration, aber mit echten Familien und Loyalität. Hier und da ein gut gemeintes, scheiße gemachtes Kulturprojekt, das auf das grüne Ruhrgebiet oder die Geschichte des Bergbaus hinweisen sollte, von Zeitungen und Integrationsbeauftragten hochgelobt, von uns weitestgehend ignoriert.“
Zusammenhang zwischen Existenzbedingungen und Sozialcharakteren
Den genauen, intelligenten, ja durchdringenden Blick wird sich die in den 90ern aufgewachsene Arielle Freytag das ganze Buch hindurch bewahren, genauso wie die Versuche, gegen die eigene Verletzlichkeit eine Mauer aus Zynismus zu errichten. Als Kennerin des Milieus, dem sie längst entwachsen, an einzelnen Punkten aber doch noch verbunden ist, verliert sie den Zusammenhang zwischen Existenzbedingungen und Sozialcharakteren nicht aus den Augen.
Arielle, längst nicht mehr Jungfrau, beobachtet die Suche nach zwei verschwundenen Mädchen des Viertels – und erinnert sich dabei zunehmend an das frühe Verschwinden ihrer eigenen Mutter. Die Erinnerungsversuche, die Recherchen Arielles beschwören ein Bild von echten Sehnsüchten und falschen Versprechungen herauf, die in bloßer Sucht münden.
Souveräne Wechseln zwischen Rückblenden und Gegenwarts-Recherche
Eine undurchsichtige, immer dunklere Rolle spielt dabei die Großmutter, zu deren Hilfe Arielle eigentlich angereist war, die sich aber zunehmend als eigenwillig, abweisend, ja emotional verwahrlost erweist.
Lisa Roy erzählt das souverän im Wechseln zwischen Rückblenden und Gegenwarts-Recherche. Der Roman bekommt so eine Krimi-Spur, und es kommt eine Liebesgeschichte hinzu, die vielleicht nicht das Zeug zum Heilsversprechen hat, aber doch als Zweifel an verinnerlichten Gesellschaftsmechanismen wie „Egal, wo man steht, man muss nach unten treten können“.
So entsteht das Bild einer Gesellschaft, die sich selbst ganz gern für „post-migrantisch“ hält, die aber meilenweit davon entfernt ist, Diskriminierung durch Chancengleichheit zu ersetzen. Wenn Frank Goosen die Emanzipation der Ruhrgebietsromane von der Literatur der Arbeitswelt zum Pop war und er die Gegenwart der weißen Mittelschicht-Männer zeichnet, dann steckt in Romanen wie dem von Lisa Roy die nächste Generation, die nächste Emanzipation der Ruhrgebietsliteratur.