Essen. Vor 50 Jahren gründete sich der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Zum Jubiläum ist jetzt im Verbrecher-Verlag eine neue Anthologie erschienen.

Es ist 50 Jahre her, dass sich der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt gründete, dass die Schuftenden zum Stift griffen, die Dichter sich die Finger schmutzig machten. Die Einsicht, wie schweißtreibend auch das Schreiben sein kann, die erreichte das malochende Revier zeitgleich mit der Erkenntnis, wie viel Poesie das Wummern der Maschinen bereithielt. Im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut sammelt man noch heute Dokumente der Zeit, und doch kommt die Jubiläumsfeier des „Werkkreises“ höchst frisch und modern daher: Iuditha Balint, neue Leiterin des Instituts, plante das Jubeljahr mit Video-Installationen, Straßentheater und Workshops – die leider teils der Corona-Pandemie zum Opfer fielen.

Garantiert Corona-resistent und auch gut mit Sicherheitsabstand zu lesen aber ist die Anthologie, die Iuditha Balint im innovativen Verbrecher-Verlag herausgibt. An der Universität Duisburg-Essen haben vier Kunstschaffende über die Arbeit in der Literatur und die literarische Arbeit nachgedacht, jetzt gibt es die Poetik-Vorlesungen in Textform.

Warum fällt dieses leicht und jenes nicht?

Schriftsteller Jörg Albrecht (38), der in Dortmund aufwuchs, einen Kreativwirtschaftsroman der Zukunft schrieb („Anarchie in Ruhrstadt“) und heute das Zentrum für Literatur auf Burg Hülshoff leitet, denkt nach über „diese entfesselte Arbeit, die uns in jeder Sekunde terrorisiert“. Autorin Kathrin Passig (50), Meisterin des Aufschiebens, gelang mit einem Buch über eben diese Prokrastination ein Bestseller, hier beschreibt sie nun, wie sie Dinge erledigt – indem sie die Dinge, die sie aber doch eigentlich erledigen wollte, liegenlässt. Warum fällt dieses leicht und jenes nicht, hängt dies womöglich mit der Vergütung zusammen, etwa so: „Vielleicht ist das Schwere das Bezahlte und das Leichte das Unbezahlte?“

Schriftsteller Jonas Lüscher wiederum verrät, dass an seinem Schreibtisch ein Zitat der Journalistin Marie-Luise Scherer prangt: „Auf mein erwachsenes Leben zurückblickend, so war es geprägt durch die Furcht vor dem Schreiben, durch sein Hinauszögern und das daraus erwachsende Unglück der Arbeitsschulden.“ Schulden also auch noch! Nicht nur unbezahlte Arbeit zählt für Schriftsteller zur Arbeit, sie geraten (vor sich selbst jedenfalls) geradezu ins Minus durch Unerledigtes; und wir Leser staunen über so einen Mangel an Stolz. Der 43-Jährige, 2017 mit dem Schweizer Buchpreis geehrt, denkt laut nach über die Milieus, aus denen viele Schriftsteller stammen (auch er selbst ein „Arztsohn“) und über die sie zumeist schreiben und also nicht schreiben über Arbeiter, die sich tatsächlich noch die Hände schmutzig machen, um Geld zu verdienen.

Werkkreis hatte das Ziel, die Literatur auf einen Werktag zu verlegen

Ein alter Vorwurf, schon im Jahr 1960 von Walter Jens formuliert: Die Literatur zeichne den Menschen „im Zustand eines ewigen Feiertages“; tatsächlich war dies ja eines der Ziele des Werkkreises, die Literatur auf einen Werktag zu verlegen.

Heute aber, dies betont Iuditha Balint im Vorwort des Bandes, birgt auch in der nicht-schweißtreibenden Arbeit Fallen, wie nicht nur die Beiträge belegen, sondern gerade auch die jüngsten Homeoffice-Wochen. Wenn Arbeit nicht mehr an Räume gebunden ist, wenn sie entgrenzt wird, auch zeitlich, wenn gar „das Schöpferische zum Zwang und die Innovation zur Pflicht“ wird – dann entsteht ein Druck, der eben nicht am Ende des Tages mit der staubigen Bergmannskluft abgelegt werden kann. So werden die Texte zum Spiegel einer Gegenwart, die eine Kopfarbeiterklasse schuf, der nur leider der Arbeiterstolz abhanden gekommen zu sein scheint.