Essen. Unsichtbarer in der Mitte des Aalto-Theaters: Wolfgang Tacke ist als „Maestro de Suggeritore“ ein künstlerischer Katastrophenhelfer in der Oper.
Einen Meter unter ihm: 80 Musiker in voller Fortissimo-Fahrt. Direkt vor seiner Nase: Die wildesten Schicksalsschläge treffen den Bariton, die heißesten Liebesschwüre schleudert die Sopranistin ins Parkett, dazu todbringende Flüche vom Bass, eben das ganze Paket von Mantel, Degen, Dolch und Gift. Aber Wolfgang Tacke, der für uns gewöhnliche Zuschauer Unsichtbare im Opernhaus, lässt sich nicht mitreißen. Eine klitzekleine Unaufmerksamkeit und Lohengrin könnte seinen Schwan verpassen, die Königin der Nacht die schärfsten Worte ihrer Rache-Rufe versemmeln, Desdemona zu früh den allerletzten Seufzer tun.
Souffleur nennen wir Wolfgang Tacke nur der Einfachheit halber, er hält es selbst so. „Souffleur benutzt man, um nicht ,Maestro de Suggeritore’ zu sagen. Sie hören ja, wie schwierig es rauskommt“, sagt der 41-Jährige lächelnd. Die Berufsbezeichnung stammt aus Italien, dort steht sie für Ko-Dirigent und Sänger-Feuerwehr in einem. Tacke an seiner abendlichen Wirkungsstätte zu besuchen, das wird eng: Links ein Monitor, rechts ein Monitor, vor ihm auf einem kleinen Klapp-Pult der komplette Klavierauszug. Auf einer kleinen Leiter klettert Tacke zu seinem Amtssitz, ab Schulterhöhe ist er auf der Bühne: ein menschlicher Anker an seinem Platz.
Tackes Job ist fast pausenlos manuell
„Wir warten nicht darauf, dass die Sänger ihren Text nicht können“, sagt er. Manche setzten zu spät ein, andere seien stets in der Gefahr, zu früh loszulegen. Tackes Job ist neben Mundwerk (er, selbst mit schöner Tenorstimme gesegnet, singt den Helden Einsätze Richtung Bühne zu) fast pausenlos manuell. Seine Hand ist mit einem ausgeklügelten Zeichensystem die ganze Zeit präsent: „Wenn es zum ersten Einsatz noch lange dauert, gibt es die flache Hand!“ Das heiße ganz einfach: Halt! Bitte noch nicht singen! Noch nicht!!!
Macht das nicht alles der Dirigent? Klar, aber der hat ja noch das Riesenorchester, den Chor und kann aus dem Orchestergraben weder singen noch fehlenden Text senden. Aus dem Souffleurkasten aber kommen abendlich dutzendfach Leitplanken, die mögliche Katastrophe abzuwenden.
Es geht mehr schief als man sieht
Der Chor, ein Dutzend Solisten, der Klangkörper, komplexe Inszenierungen, kühne Bühnenbilder – fast ein Wunder, dass nicht mehr schiefgeht! Wolfgang Tacke lacht: „Es geht mehr schief, Sie sehen es nur nicht, das ist der Souffleur. Dafür sind wir da. 90 Prozent geht nicht nach draußen.“ Es sind die Lage und Konstruktion seines Platzes, dass wir im Publikum nichts davon hören. Tacke grinst, „meistens nicht. Aber wenn die Kacke richtig dampft, hört man uns im Parkett schon.“ Nach Jahren im Beruf hat er längst einen Riecher für Gefahren, merkt oft schon beim ersten Auftritt, was eine Sängerin braucht, wie sie sich „nach vorne spielt“, man stellt Kontakt her, verbindet sich. All das, während Zuschauer ahnungslos schwelgen.
Ein unterschätzter Beruf. In den großen Häusern wie Hamburg, Berlin, München oder Essen sitzen „im Kasten“ studierte Musiker; Tacke selbst ist Folkwang-Absolvent. Ab der ersten Probe sind sie dabei, kennen das Werk in- und auswendig, jeden Fallstrick. Es gibt keine Wechsel: Wer den „Rigoletto“ souffliert, ist immer derselbe. „Der Souffleur ist der letzte der getauscht wird“, sagt Tacke und verrät das Berufsethos: „Unter uns gilt: Wir kommen auch mit 40 Fieber. Lieber ein todkranker Souffleur, der die Inszenierung kennt, als ein top Ausgeschlafener, der das Stück nicht draufhat.“
„Du siehst aus wie mittlere Depression plus drei Tage Brechdurchfall“
Wie geht es einem nach drei Stunden da unten? „Man ist fix und alle“, sagt er und erinnert sich amüsiert an das charmante Kompliment einer Kollegin nach dem zweiten Akt einer besonders schwierigen Produktion: „Du siehst aus wie mittlere Depression plus drei Tage Brechdurchfall.“
Dass das Aalto sein Arbeitsplatz ist, setzt einen Kindertraum fort. Wolfgang Tacke ist acht, als er hier die damalige „Zauberflöte“ sieht. „Die war wunderschön, ein Schlüsselerlebnis.“ Die Oper wird ihn nie wieder loslassen. Heute sitzt er mit denen, die er damals bewunderte, nach getaner Arbeit beim Kantinen-Absacker. Auf Augenhöhe mit Papageno oder Aida. Wird nachgekartet beim Bier? „Wir reden danach über alles Mögliche, bloß nicht über Oper.“
„Mein Job ist nicht, auf der Bühne zu stehen und Applaus zu bekommen“
Kürzlich stand Tacke, dieser Unsichtbare im Zentrum des Kraftwerks Musiktheater, dann doch auf der riesigen Bühne im brandenden Premierenbeifall. „Jetzt müssen wir den Wolle aber auch mal rausziehen“, haben sie gesagt, weil „Dogville“ Schwerstarbeit auch für ihn war. Aber dass er einen Beruf hat, bei dem er unsichtbar ist, ist ihm „egal“. „Wenn man mitgeholfen hat, dass die Sänger kein Desaster erleben, reicht das schon. Mein Job ist nicht, auf der Bühne zu stehen und Applaus zu bekommen, sondern drunter zu sitzen. Das hat große Vorteile. Man kann in Jogginghosen arbeiten und ist nach der Vorstellung der Erste am Glas.“