Essen. „Lucrezia Borgia“: Musikalisch gibt es in Essen eine Belcanto-Perle zu bestaunen. Die Regie grenzt an einen Offenbarungseid für ein Opernhaus.
Das Aalto Theater hat eine schlimme Woche hinter sich. Kurz vor der Premiere wurden drei von vier Hauptdarstellern krank, auch Nebenrollen traf es. Nur war es nicht „Die Zauberflöte“, bei der einem 20 deutsche Theater kurzfristig einen Sarastro borgen könnten, sondern eine rare Perle des Belcanto. Den Disponenten, der Kostümabteilung und allen anderen: unseren Glückwunsch! Samstag ging Donizettis „Lucrezia Borgia“, vokal herausragend bis achtbar über die Bühne. Ein Kunst-Stück.
Angesichts dieses Kraftaktes sondergleichen wäre es die reine Freude, die Einspringer als Teil eines überragenden Theaterabends zu beschreiben. So ziemlich das Gegenteil ist der Fall. Die Inszenierung um die gefürchtete Giftmischerin, von der Gaetano Donizetti (nach Victor Hugo) auch als Opfer ihrer Verhältnisse erzählt, ist ein Trauerspiel der Sparte ratloser Musiktheater-Regie. Schlimmer noch: Ben Baurs Regie-Debakel ist ein gefundenes Fressen für die nicht kleiner werdende Gruppe von Zeitgenossen, die Oper verzichtbar finden, in ihr hüftsteifes Pathos ohne Leben sehen. Charakterstudien? Fehlanzeige. Personenführung? Kaum auszumachen.
„Lucrezia Borgia“ in Essen: musikalisch hochrangig, in Sachen Regie unterbelichtet
Da hilft Baur nicht, dass er als erfahrener Bühnenbildner deutlich qualifizierter agiert. Seine den Abend prägende, mächtige ausgestorbene Halle einstiger Machtfülle (kalt der Kamin links) wäre diesem blutgetränkten Intrigenstadl durchaus rasante Spielfläche. Doch statt einer Echokammer des Schreckens ist sie Hohlraum der Einfallslosigkeit. Baurs Idee, die Opferrolle einer als Monster verschrienen Dame mit Alptraumsequenzen zu untermauern, schlägt weitgehend fehl. Hübsch schaurig noch die irrlichternden toten Mini-Lucrezias, platt und nie zielführend dagegen, die Titelheldin mehrfach (jeden Akt aufs Neue) töten zu lassen. Wie unscharf, unentschieden der ganze Abend erzählt ist: ein Ärgernis!
Worum geht es? Eine Frau (Papsttochter, was alles sagt) liebt im sündigen Italien der Renaissance einen Mann aus mütterlichem Gefühl, sagt ihm aber nicht, dass er ihr Sohn ist. Dieser Gennaro liebt sie als Frau, nicht ahnend, dass es Mutti ist. Aus solcher Kolportage schlug Oper im 19. Jahrhundert beim dankbaren Publikum mächtige Schmachtfunken. Interessanter wäre eine andere Brücke zu uns. Dass in dieser Borgia-Welt feistes Trinklied und Totenglocke (nicht nur in Donizettis effektsatter Partitur) Seit an Seit das Dasein flankieren, ist eine beklemmende Konstante menschlichen Daseins. Doch Baurs Regie vertändelt sich anderswo; die an Gift Sterbenden hampeln wie Väter der Klamotte, ihr tuntiges Tänzchen zuvor ist eine choreographische Bankrotterklärung.
Ben Baurs Regie ist ohne Spannung, die Figuren haben kaum Tiefe oder Profil
Baur und die Seinen profitierten vom freundlichen Schlussapplaus, der klar den musikalischen Säulen galt. Allen voran Marta Torbidoni: eine Lucrezia aus dem Bilderbuch, mächtiger Sopran, herrliche volle Mittellage, dazu mühelos in Koloratur und dem berüchtigten langen Atem, der Ensemble und Orchester überstrahlt. Na’ama Goldman zeigt in der Hosenrolle des Maffio kostbar schimmerndes Edelmetall, geben Chor und Orchester Gas, versinkt ihr Mezzo freilich ins akustische Nirwana. Francesco Castoro (Gennaro) hielt in tenoraler Klage tapfer bis zum Ende durch.
Neuer GMD am Dirigentenpult: Andrea Sanguineti weiß um Donizettis Potenzial
Am Pult der Philharmoniker, die nicht nur auf Donizettis dramatischen Insignien aus Harfe, Horn und Pauke („Lucia di Lammermoor“ klopft schon deutlich an die Pforten) exzellierten, stand der künftige Generalmusikdirektor. Andrea Sanguineti verweigerte sich nicht jenem blutigen Entertainment, in dem Tötungsfantasien auch schon mal im Dreivierteltakt vorbeiwalzern. Aber er zeigte zugleich viel Wissen um zartere Klangfarben der Partitur und ihre feineren dynamischen Kräfte. Bravo!
----------------
KRANKE SÄNGER BALD WIEDER AUF DER BÜHNE
Mit Spannung war das „Lucrezia“-Debüt vonJessica Muirheaderwartet worden. Die wohl größte sängerische Errungeschaft der Ära Mulders, zählt zu den wegen Erkrankung ausgefallenen Sängern. Muirhead, Liliana de Sousa (Maffio) und Almas Svilpa (Alfonso), ebenfalls krank, sollen aber in den nächsten Aufführungen wieder auf der Bühne stehen. Sie und das vorzügliche Orchester lohnen den Besuch der so so selten zu hörenden Oper. Nächste Aufführungstermine von „Lucrezia Borgia“ (gut 2,5h, eine Pause): 26.11, 4.12, 5. und 14. Januar. Karten (11-49€) Tel. 0201-8122200.