Gelsenkirchen. Kraftakt im Musiktheater im Revier: „Billy Budd“ beeindruckt tief. Regisseur Michael Schulz arbeitet Homoerotik und Pazifismus feinfühlig heraus.

Einen großen Wurf landete das Musiktheater im Revier mit einer Neuinszenierung von Benjamin Brittens Oper „Billy Budd“. Die begeisterten Reaktionen des Premieren-Publikums fielen entsprechend einhellig aus – Dank für einen Kraftakt der besonderen Art. Denn gefordert sind allein 15 männliche Solisten, dazu ein monumentaler Männerchor und eine stattliche Statisten-Phalanx.

Entsprechend selten ist das Werk zu sehen. Die wenigen Produktionen, in den letzten Jahrzehnten auch die in Köln und Düsseldorf, hinterlassen jedoch stets nachhaltige Eindrücke. In keiner seiner relativ vielen erfolgreichen Opern hat Britten seine pazifistische Gesinnung und seine homosexuelle Neigung so eng miteinander verknüpft wie in der Geschichte um den grundehrlichen Matrosen Billy Budd nach der Vorlage von Herman Melville.

Billy Budd wird zum Objekt der Begierde – und als Täter zum Opfer

Martin Homrich als Kapitän Vere.
Martin Homrich als Kapitän Vere. © Karl und Monika Forster

Die harte Männerwelt auf dem englischen Kriegsschiff „Indomitable“ (die Unbezwingbare) ist von Unterdrückung, Gewalt und innerer Leere geprägt. Lediglich die zweifelhafte Vorfreude auf eine Attacke gegen den französischen Feind hält die sinkende Laune der Mannschaft aufrecht. Gefühle haben da keinen Platz und schlagen sich in homoerotischen Fantasien nieder. So wird der ebenso naive wie attraktive Billy Budd zum Objekt der Begierde des gefühlsrohen Waffenmeisters Claggart und des kultivierten Kapitäns Vere. Begierden, die sich nicht ausleben lassen, was Billy Budd zum Verhängnis wird. Claggarts Gefühle schlagen in Hass um. Er bezichtigt „Baby Budd“ der Anstiftung zur Meuterei. Der erschlägt Claggart in einem Anfall hilfloser Wut – und der Kapitän tut nichts, um Budd vor der Todesstrafe zu retten. Stattdessen ergeht er sich in heftigen Vorwürfen und Zweifeln.

Britten war als Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg und als Homosexueller ungeachtet seines Ansehens als prominentester englischer Komponist seiner Generation Vorurteilen und teilweise heftigen Angriffen ausgesetzt. Was man jedem Takt der schmerzlich eindringlichen Musik anhört. Regisseur Michael Schulz arbeitet die pazifistischen und homoerotischen Ebenen des Stücks klar, aber feinfühlig und nie plakativ heraus. Die Aggressionen innerhalb der Mannschaft werden nicht durch oberflächlichen Aktionismus zum Ausdruck gebracht, sondern durch eine detaillierte Personenführung, wobei der eindrucksvolle, dynamische Umgang mit den Chormassen erneut beweist, dass Schulz sein Handwerk beherrscht. Die Brutalität Claggarts schlägt sich nicht in Gewaltakten nieder, sondern in dessen Gestik und, als optisches Beiwerk, einer Todesallegorie in Gestalt eines Pestdoktors.

Dirk Becker teilt die Bühne in zwei Ebenen – erotische Konflikte

Beeindruckende Ensemble-Bilder mit Chor.
Beeindruckende Ensemble-Bilder mit Chor. © Karl und Monika Forster

Auch die erotischen Konflikte werden deutlich gezeichnet, aber mit sensibler Dezenz, allenfalls durch einige androgyne Statisten aufgepeppt. Das alles spielt sich in der düsteren, einschüchternden Kulisse von Bühnenbildner Dirk Becker ab. Die Bühne teilt sich in zwei Ebenen, der spießbürgerlich harmlosen Kajüte des Kapitäns und einem monumentalen Schiffsraum, dessen Bullauge im Hintergrund an ein Tor zur Hölle erinnert.

Es sind die inneren Konflikte Claggarts und des Kapitäns, die Britten und auch den Regisseur besonders anrühren. Die ziemlich unbedarfte Titelfigur bekommt erst in dem langen Schlussmonolog vor ihrer Hinrichtung stärkeres Profil. Hier hält sich Schulz sehr zurück, so dass Dominik Köninger, trotz der ausdrucksstarken Schluss-Szene, stets im Schatten seiner mächtigen Liebhaber bleibt. Michael Tews überzeugt als Claggart mit seinem rabenschwarzen Bass und seinem dämonischen Charisma auf ganzer Linie. Die feige Wankelmütigkeit des Kapitäns kann Martin Homrich, ungeachtet einiger Probleme in der Höhe, subtil vermitteln.

Joachim G. Maaß bravourös als alter Matrose Dansker

Unter den restlichen zwölf Solo-Rollen verdient noch Joachim G. Maaß als alter Matrose Dansker besondere Erwähnung. Ansonsten beeindruckt die Produktion als geschlossene Ensembleleistung. Nicht zuletzt durch den Einsatz des erweiterten Herrenchors, der quasi eine Hauptrolle einnimmt, mit Druck und Nachdruck.

Rasmus Baumann am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen hielt die Fäden der mehr als dreistündigen Aufführung fest in Händen, führte den vielköpfigen Apparat sicher durch alle Klippen, schlug im Schluss-Monolog arg zähe Tempi an, vermochte aber den gesamten Abend unter Spannung zu halten.

Verdienter Beifall für alle Beteiligten.