Essen. Von Anspruch bis Arschbombe: Die Zollverein-Vorstände Theo Grütter und Hans-Peter Noll über einen Unort, der sich zum Zukunftsareal wandeln soll.
Den schwarz-gelben BVB-Schal hängt sich der eine um, blau-weiß tickt der andere, doch beruflich gilt ihre Zuneigung allein Zollverein in Essen: Hans-Peter Noll und Theo Grütter, die beiden Vorstände der gleichnamigen Stiftung, im Interview...
Herr Professor Noll, Herr Professor Grütter, von Hilla Becher, der berühmten Industriefotografin stammt die kühne Behauptung: „Lassen Sie jemanden in Norddeutschland einen Förderturm zeichnen, das kann er nicht.“ Sie dagegen haben’s drauf. Hier sind Papier und Stift, legen Sie los.
(Kleine Malpause)
…man sieht schon: nicht sehr filigran, aber kenntnisreich. Hat sich Ihr Bild von Zollverein in 20 Welterbe-Jahren eigentlich verändert?
Noll: Insoweit, als es immer vollständiger wurde. Ich lerne jeden Tag noch was dazu.
Grütter: Und ich bestätige jetzt alle Klischees: Vor 20 Jahren sah ich Zollverein als Untergangsort. Spannend, aber ruinös. Ein Unort aus der Vergangenheit, wie es hier so viele gab. Heute ist er das genaue Gegenteil: durch und durch zukunftsgewandt. Alles was an Debattenkultur läuft, die Zukunft des Ruhrgebietes, die Frage, wie alles weitergeht, verbindet sich inzwischen auch mit Zollverein. Ein Zeitenwechsel.
Und jetzt fünf Euro ins Phrasenschwein.
Grütter: Ich weiß, wie das klingt. Aber ich weiß auch, wie wir hier einst übers Gelände gelaufen sind: Das war nicht ohne Charme, diese Ruinen-Ästhetik hatte was von einem Abenteuerspielplatz. Da liefen ein paar Ehemalige rum, Studenten, Kulturbeflissene, Freaks – das war’s. Die Bevölkerung aus dem Stadtteil ließ sich nicht blicken.
„Das sind die Besucher von morgen, die entscheiden: Ist uns ein Welterbe etwas wert?“
Hat sich diese Scheu gelegt?
Noll: Oh ja. Das ist aber auch wichtig, denn wir brauchen diese Akzeptanz. Zollverein war eine Stätte in der Niederlage, das tickende Herz von Katernberg stand still, und wir arbeiten an der Transformation. Dass die Leute ihrem Besuch von außerhalb sagen: „Pass auf, ich zeig dir was Tolles, mein Welterbe, mein Zollverein.“ – da wollen wir hin.
Nämlich wie?
Grütter: Es gibt Fotoprojekte, Kurse, Workshops, Ferienprogramme... Die RAG-Stiftung buttert da viel Geld rein.
Noll: Wir legen einen großen Schwerpunkt auf die Verknüpfung mit dem Stadtteil. Mit Anspruch – aber auch mit dem jährlichen Arschbomben-Wettbewerb für die Jugendlichen. Das sind die Besucher von morgen, die entscheiden in 30 Jahren darüber: Ist uns ein Welterbe etwas wert?
Zur Person: Hans-Peter Noll
Das Ruhrgebiet ist sein Revier: geboren in Datteln, wohnhaft in Herne, hat sich Hans-Peter Noll, Jahrgang 1959, Zeit seines Berufslebens mit der Entwicklung der Region beschäftigt.
Der Geograph studierte an der Ruhr-Universität Bochum, wo er seit 2000 auch Honorarprofessor ist und führte zwei Jahrzehnte die Geschäfte der RAG Montan Immobilien GmbH (vormals Montan-Grundstücksgesellschaft mbH) in Essen.
Seit 2018 ist Noll Vorstandsvorsitzender der Stiftung Zollverein. Daneben ist das CDU-Mitglied Vorsitzender des Ruhrparlaments im Regionalverband Ruhr.
Ein Gefühl, das wohl nicht von allein kommt.
Grütter: Ein langer Weg. Das war hier ja schließlich der Ort der Niederlage. Du verlierst Deinen Arbeitsplatz, und dann sollst du toll finden, dass die da „irgendwie Kulturscheiß“ machen? Für die aktuelle Generation dagegen ist Bergbau nur noch die Erinnerung an den Bergbau. Bei denen gewinnen wir, die finden die Locations hier toll. Und schließlich gibt’s noch die Freunde und Förderer von Zollverein mit über 500 Mitgliedern. Die haben es auch geschafft, die Stadt-Community zu versammeln, eine Riesenleistung: Da sind viele dabei, die vor 20 Jahren noch nie im Essener Norden waren.
„Der lange Abschied vom Industriezeitalter, war sozial ein Segen für die Region“
Soll’s auch heute noch geben: Essener, die den Nord-Süd-Äquator A40 nie überquerten.
Grütter: Ich kenne das noch aus den 1990er Jahren, da war hier Kampfhunde-Wettrennen. Da ging man rüber, wenn man was auf die Fresse kriegen wollte. Das ist alles weg, die Immobilienpreise haben angezogen. Der Stadtteil hat längst begriffen, dass er von Zollverein profitiert.
Trotzdem hat vieles quälend lange gedauert. War das jetzt eher Vor- oder Nachteil?
Noll: Strukturwandel braucht einen langen Atem. Stillgelegt ist so ein Standort schnell. Daraus aber ein neues Stück Stadt zu entwickeln, braucht seine Zeit. Alles andere würde alle Akteure überfordern.
Grütter: Es wird ja immer schlecht geredet: „Ihr kommt nicht aus dem Quark, das dauert viel zu lange.“ Aber schauen sie nach England, da gab’s einen Kahlschlag und danach nichts mehr. Die haben die Dinger abgeräumt und die Leute ins Elend gestürzt. Das Ruhrgebiet ist dagegen beharrlich geblieben, wir sind hier nicht seit 30, wir sind seit 60 Jahren unterwegs, über zwei Generationen.
Weiß Gott eine lange Zeit.
Grütter: Ein langer Abschied vom Industriezeitalter, ja, aber ich glaube, der war sozial ein Segen für die Region.
Noll: Und typisch fürs Revier. Schon in München hätte das so nicht funktioniert – ein Wandel, der von Unternehmen, Gewerkschaften, Politik, Kirchen einvernehmlich getragen wird. Und gerade auf Zollverein gibt es eine Vielfalt, die kein anderer Standort bietet. Hier erleben Sie alle Themen, die mit Wandel zu tun haben, im Gelingen wie im Scheitern. Am Ende wird man über die Fläche laufen und sagen können: Wandel geht.…
„Zeigen sie mir eine Baustelle in Deutschland, die preisgünstiger gewesen ist“
...wenn man das nötige Kleingeld dazu hat.
Noll: Absolut richtig. Es kostet Geld, Kraft und Leidenschaft.
Grütter: Hier ist inzwischen eine halbe Milliarde Euro geflossen, das ist nicht wenig. Nur wenn man sich überlegt, dass in Stuttgart ein Bahnhof für zehn Milliarden unter die Erde gelegt wird, wenn die Elbphilharmonie um ein Vielfaches teurer wird als geplant – will man dann unserer Region zum Vorwurf machen, dass wir eine halbe Milliarde investieren in einen Standort an den pro Jahr 1,5 Millionen Menschen kommen, 30 Millionen seit wir Welterbe sind?
Zur Person: Theo Grütter
Gold und Kohle, Adel und Fußball, Krupp und Krieg, Industrie und Pop-Kultur – den Mythos des Ruhrgebiets hat er schon von vielen Seiten beleuchtet: Theo Grütter, 1957 in Gelsenkirchen geboren, studierte Geschichte, Germanistik, Pädagogik und Archäologie in Essen.
Und das museumsreif: zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am einstigen Ruhrlandmuseum, gestaltete er von 2008 bis 2011 als Projektleiter Aufbau und Dauerausstellung des neuen Ruhr Museums maßgeblich mit.
Seit 2012 ist Grütter Direktor des Ruhr Museums, seit Oktober 2017 auch Vorstand der Stiftung Zollverein.
Erstmal kein Vorwurf, sondern eine Feststellung.
Grütter: Okay, aber man muss den Mehrwert gegenrechnen, den das gebracht hat: ökonomisch, aber vor allem kulturell und in der Symbolik. Zeigen sie mir eine Baustelle in Deutschland, die gemessen daran preisgünstiger gewesen ist als Zollverein und die Industriekultur. Die Menschen kommen aus aller Welt hergepilgert, weil wir Vorbild sind, weil wir die Dinger gut erhalten und transformieren in die Zukunft. Zollverein ist kein Museum!
Noll: Außerdem muss man sehen: Durch diese Investitionen in den Standort sind erst private Investitionen möglich geworden. Hier sind 250 Millionen Euro privates Kapital investiert worden. Die beiden RAG-Zentralen, die Hochschule, das Hotel, das wäre hier sonst nie passiert.
Wenn sie auf den Standort als Ganzes schauen: Sehen Sie sich gut in der Zeit?
Grütter: Corona hat uns in der Besucherentwicklung sicher gestoppt, im Bau sind wir aber sogar ein Stück vor die Welle gekommen. Es gibt neue Wege, Halle 8, die letzte auf dem Zechengelände, ist fertig, das Areal komplett digitalisiert. Aber am Ende ist es ja dies, was uns mit dem Weltkulturerbe Kölner Dom verbindet: Es hört nicht auf. Vor allem kommt jetzt noch eine große Bauphase von etwa zwei Jahren mit der Verfüllung der Schächte.
„Es kann uns passieren, dass Zollverein als Mahnmal für den falschen Weg steht“
Endgültig Schicht im Schacht also?
Noll: Ja, die Wasserhaltung wurde an die Lippe und an den Rhein verlegt. Schacht XII wird komplett verfüllt, bei Schacht II gehen noch Rohrleitungen in die Tiefe, so dass man notfalls auch pumpen könnte. Nach den Bauarbeiten können wir auch die Flächen unterm Doppelbock nutzen, wir bekommen die Schachthalle dazu und können dann endlich ein Touristeninfo bauen.
Und Ihr Blick in die Zukunft…
Noll: …gilt der Frage: Wie nachhaltig kann man eigentlich ein Welterbe entwickeln? Können wir die Gebäude noch weiter isolieren, Solarpaneele installieren, ohne Denkmalschutz und Welterbe-Status zu riskieren? Können wir vielleicht die Grubenwärme nutzen?
Oh je, das mit der Grubenwärme ist ja schon mal gründlich in die Hose gegangen, beim Sanaa-Gebäude, das mit dem hochgepumpten warmen Wasser beheizt werden sollte und heute ein Millionengrab ist...
Noll: Sagen wir: ein ästhetisch hochwertiges Gebäude mit geringem Nutzen. Aber dort sollte das warme Grubenwasser genutzt werden, wir schauen nur auf die Grubenwärme selbst, das ist der große Unterschied. Wir arbeiten da mit dem Fraunhofer Institut zusammen, weil wir uns als Zukunftsort verstehen. Wir sind eben nicht wie die Pyramiden eine Grabstätte, wir sind auch ein Reallabor.
Grütter: Und wissen Sie, warum das so wichtig ist? Weil die Gefahr besteht, dass Zollverein vom Denkmal zum Mahnmal wird. Welche Debatte läuft denn zur Zeit? Dass das fossile Zeitalter der große Irrweg war, der uns die Erderwärmung gebracht hat. Wenn wir nur auf die Vergangenheit verweisen würden, als ewiges Denkmal, kann uns passieren, dass Zollverein irgendwann mal als Mahnmal für den falschen Weg steht.
„An diesem Standort ist Welterbe keine Last, sondern das Pfund, mit dem wir wuchern“
Motto: Die haben uns reingeritten.
Grütter: Genau. Deshalb ist diese Transformation und die Nachhaltigkeit des Standorts so wichtig. Dass man vom fossilen in anderes energetisches Denken umgestalten kann, dass es eine Zukunft gibt, auch aus dieser Vergangenheit. Dass wir als Menschen zwar die Natur über 150 Jahre kaputtgemacht haben wie keiner vor uns, dass die Natur aber ausgerechnet hier wieder eine Chance hat, in einer Vielfalt, die es vorher nicht gab – das sind die Geschichten, die wir erzählen müssen.
Noll: Deswegen haben wir ja hier auch unsere Bienen. Als wir damit vor 15 Jahren anfingen, haben uns alle ausgelacht, dabei ist das symbolisch ganz wichtig. Wandel bei der Energieversorgung, in der Natur, bei der Vermittlung, bei der Mobilität. Wir haben Schnellladestationen und eine komplette 5G-Abdeckung am Standort.
Inwieweit bremst sie bei diesem Blick in die Zukunft denn der Welterbe-Schutz aus? Es gab ja die Debatte, dass Sie das Sonnenrad auf der Kokerei abbauen sollten.
Noll: Das werden wir auch tun, wenn die Bindungsfrist abläuft, 2023…
Grütter: Es gibt auch Nachteile, klar. Manches ist kompliziert. Du kannst hier nicht einfach 30 Schilder hinstellen. Aber das wird aufgewogen durch die Bedeutsamkeit des Ortes und die Qualität. Mit dem neuen Denkmalpfad erschließen wir demnächst die Kokerei, den Höllenort von einst mit 1000 Grad in den Schamott-Öfen.
Noll: An diesem Standort ist Welterbe kein Hemmnis und keine Last, sondern das Pfund, mit dem wir wuchern. Man kann hier neu bauen, man kann hier entwickeln. Es gilt halt einfach, Spielregeln einzuhalten. Das ist hier kein normales Gewerbegebiet, das muss man ganz klar und deutlich sagen. Dieser Standort ist die Kirsche auf der Sahne auf der Cremetorte.
„Du kannst nicht nur Pillepalle machen, wir müssen den Welterbe-Status rechtfertigen“
Und Zollverein ein Geschmacksmuster mit Insel-Charakter: Wer die Essener Straße längs fährt, ahnt noch in der Kurve am Hallo nicht zwingend, dass da ein paar Meter weiter „die Pyramiden“ warten.
Noll: Aber wir wollen fair bleiben: Wenn sie in Köln sind, fahren sie durch manche Stadtteile, da lassen sie auch die Knöpfe runter. Nur die Bilder im Kopf sind andere.
Grütter: Aber es stimmt schon: Die Zuwegung könnte besser sein. Die A42 ist nicht dramatisch weit weg, im Norden sind wir zu den Nachbarstädten optimal angebunden. Das Problem ist die Nord-Süd-Richtung.
Im Dezember sind Sie beide als Zollverein-Vorstände noch einmal für drei Jahre im Amt bestätigt worden. Was steht bis September 2025 noch auf der Agenda?
Noll: Nachhaltige Energieversorgung – nicht nur als Konzeptionell, sondern umgesetzt. Dass wir die Mobilität verbessert haben. Dass wir als Transformationsstandort das Beispiel weltweit sind. Und dass Zollverein im Herzen der Menschen angekommen ist.
Grütter: Das Wichtigste für mich ist, dass wir diesen Spagat durch- und offenhalten, der uns manchmal zum Vorwurf gemacht wird. Die einen sagen: Ihr seid nicht international genug. Die anderen sagen: Ihr geht über die Köpfe der Bevölkerung hinweg. Man darf sich aber nicht komplett für eine Seite entscheiden. Du kannst hier nicht den ganzen Tag Pillepalle machen, wir müssen einen Welterbe-Status auch rechtfertigen – mit Veranstaltungen auf internationalem Niveau. Beides zu bieten, Arschbomben-Wettbewerb und Kunst à la Kabakov – das ist ein Ritt auf der Rasierklinge.
„Zollverein stand jeweils für die Moderne, und Wandel muss es nach wie vor geben“
Es gab ja immer auch die Sorge vor der „Disneyisierung“ des Standorts. Aber bei manchen Plänen fragt man sich, warum Sie so zögerlich auftreten.
Grütter: Großprojekte hören sich erstmal immer super an. Dann schafft man es aber nicht mehr, diesen Spagat auszuhalten, denn solche Großprojekte überwölben das Welterbe komplett. Am Ende ist es ein Puzzle, und ich glaube, das passt bei uns ganz gut zusammen. Wir haben 150 Veranstaltungen pro Jahr und bieten auch meinen Freund Atze Schröder und die ganzen dummen Auguste an, weil das in der Breite eine hohe Akzeptanz hat und Humor fürs Ruhrgebiet wichtig ist. Wir sind als Standort gefragt, das ist nicht immer unser Verdienst, aber wenn die Qualität stimmt, bekommt das einen Sog-Charakter.
Bei den Plänen für eine „Designstadt“ war der Sog überschaubar. Müssen wir uns von den alten Ideen verabschieden?
Noll: Ich sag es mal so: Zollverein stand jeweils für die Moderne, es war einst die modernste Zeche der Welt, und als es darum ging, die Transformation hinzubekommen, war das Thema Design modern. Heute ist es die Digitalisierung. Ich glaube, es muss einen solchen Wandel geben. In Bezug auf Design und Gestaltung ist hier viel passiert, aber manches von den ursprünglichen Plänen hat sich tatsächlich überlebt, das ist so. Die Zyklen werden dabei immer kürzer und schneller, darauf muss man sich einstellen.
Grütter: Neulich habe ich einen Brief bekommen von jemandem, der in einem Kaff im Allgäu zur Kur war. Und im Park, wo man Sitzbänke sponsern kann, da gibt’s ne Zollverein-Bank! Irgendein Ruhri ist da hin, und was nimmt der mit? Den Doppelbock! Ich wage zu behaupten: Zollverein ist bekannter als die Stadt Essen und längst nicht mehr nur Zeichen für den Bergbau, sondern für das Industrieland Nordrhein-Westfalen insgesamt. Damit tritt er aus der Vergangenheit ein Stück in die Zukunft.
Wie Sie schon vorhin...
Grütter: Ja, ich weiß, wieder das Klischee. Aber ist so.