Essen. Nach dem ersten Jahr im Amt der Kultur-Staatsministerin bleibt für Claudia Roth, die „Allzweckwaffe“ der Grünen, noch viel zu tun.

In ihrem ersten Amtsjahr hätte die in Berlin regierende Koalition aus SPD, Grünen und FDP eine Kultur-Staatsministerin gebraucht, die bei absehbaren Krisen frühzeitig gegensteuert, die über eine breite Kenntnis der Kulturlandschaft sowie einen klaren kulturpolitischen Kompass verfügt und danach handelt. Die Ampel aber hatte Claudia Roth.

Die „grüne Allzweckwaffe“ kam nicht als Fachpolitikerin ins Amt, dazu liegen ihre Zeiten als Dramaturgin in Dortmund und Unna oder als Managerin von „Ton, Steine, Scherben“ ein paar Jahrzehnte zu viel zurück. Immerhin, in der zweiten Hälfte 2023 soll der „Kultur-Pass“ für all jene kommen, die in diesem Jahr 18 werden: Sie bekommen ein Guthaben von 200 Euro, das sie mit Hilfe einer App oder einer Internet-Seite in Kultur-Eintrittskarten einlösen können. Die Aktion zur Publikumsverjüngung müsste funktionieren, Frankreich hat sie ja schon mit Erfolg erprobt.

Documenta-Skandal und Bayreuth

Aber sonst? Claudia Roth bleiben noch viele Baustellen. Die Sicherung und den Ausbau der Erinnerungskultur hat sie zu einem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit erklärt – ohne dass man sich in Deutschland über sonderlich große oder schmerzhafte Lücken auf diesem Feld beklagen könnte. Wichtiger wäre wohl die Frage danach, wie die Erinnerungskultur in neuen Formen und Formaten gestaltet werden kann, damit sie nicht zum Ritual erstarrt. Und je weniger Zeitzeugen es noch gibt, desto digitaler wird sie werden müssen. Die Debatte darüber könnte eine Kultur-Staatsministerin durchaus anstoßen.

Die Mega-Aufgabe einer Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, für die der Wissenschaftsrat noch zu Zeiten von Roths Vorgängerin Monika Grütters die Herauslösung der Museen empfohlen hat, dürfte nach einem Beschluss von Anfang Dezember auf Minimalniveau gelöst werden – der von vielen Seiten monierte Wasserkopf der Preußenstiftung bleibt. Ähnlich sieht es bei der dringend fälligen Reform der Bayreuther Festspiele aus, bei der wohl nur der Bund die Federführung übernehmen kann.

Die Vorbereitungen für die nächste Documenta sind schon angelaufen

Als „Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien“ hätte sich Claudia Roth auch bei einer anderen Baustelle mehr ins Zeug legen müssen. Schon im Januar 2022 gab es erste Warnhinweise darauf, dass gegen die im Sommer anstehende Documenta 15 Antisemitismus-Vorwürfe erhoben werden könnten. Das Thema sollte auch auf Drängen von Claudia Roth vorab mit einer Reihe von Veranstaltungen aufs Tapet kommen und diskutiert werden; als die geplante Veranstaltungsreihe nicht zustande ­kam, ließ es Roth dabei bewenden. Dabei hätte das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa bei einer solchen Gelegenheit früh lernen können, dass Antisemitismus-Vorwürfe hierzulande das Potenzial haben, Veranstaltungen grundsätzlich in Frage zu stellen und alle anderen inhaltlichen Fragen komplett zu überlagern. Und Claudia Roth hätte deutlich machen müssen, dass antisemitische Klischees nicht durch die Kunstfreiheit geschützt sind.

Dass das Antisemitismus-Thema im Vorfeld der Documenta 15 hätte abgeräumt werden müssen, bevor es den Image-Totalschaden anrichten konnte, den wir erlebt haben, ist so unstrittig wie eine andere Tatsache: Die bisherige Organisationsstruktur dieser Weltkunstausstellung macht es dem Bund schwer, hier einzugreifen. Der Skandal offenbarte, dass die Documenta eher wie ein Provinz-Festival organisiert ist: Der Bund darf mitfinanzieren, hat aber weniger Mitspracherechte als der Oberbürgermeister von Kassel. Und für die Geschäftsführung der Documenta qualifizierte man sich bislang etwa durch Leitung einer Sparkassenstiftung. Beim Umbau der hanebüchenen Documenta-Struktur wäre allerdings besonders Eile geboten. Schon in diesen Wochen wird das Findungsteam für die Auswahl der Documenta-16-Kuratoren zusammengestellt. Aber von der fälligen Neustrukturierung hat man bislang noch nichts gehört.

Das Kunstmuseum des 20. Jahrhunderts und das Foto-Institut

Und auch beim Bau für ein Museum des 20. Jahrhunderts, das man sich in Berlin zusätzlich zu dem gerade angekauften Hamburger Bahnhof auch noch leisten will, geht es nur zögerlich voran. Dieser Bau dürfte auch nach den überarbeiteten Plänen der Groß-Architekten Herzog & de Meuron klimatechnisch ein Sündenfall erster Güte werden. Die bislang genehmigten Baukosten von 364 Millionen Euro werden keinesfalls ausreichen, und die bitter nötige Klimatisierung der Räume kann die Betriebskosten in unabsehbare Höhen jagen – da müsste sich gerade eine Ministerin der Grünen doch leicht zu einem Baustopp durchringen, auch wenn es die Zahl der Feindschaften nicht verringert.

Aber nach dem Prinzip des geringsten Widerstands scheint Claudia Roth auch beim Foto-Institut des Bundes vorgegangen zu sein, das zur Sicherung des nationalen Fotografie-Erbes eingerichtet werden soll. Anders als ihre Vorgängerin scheint sie sich für das Projekt nicht sonderlich interessiert zu haben, mancher Insider sprach gar von „Arbeitsverweigerung“. So überließ sie die erbittert umkämpfte Entscheidung über den Standort den sach- und fachfremden Abgeordneten des Haushaltsausschusses im Bundestag. Der erhöhte den Kostenrahmen des Projekts von 83 auf 86 Millionen Euro. Eine Machbarkeitsstudie hatte 2021 ergeben, dass die Rettung des fotografischen Erbes 125 Millionen Euro erfordert. Wer wirklich überzeugt gewesen wäre, dass wir einen Hort der deutschen Fotografiegeschichte brauchen, hätte wohl für eine angemessene Finanzierung gesorgt.