Essen. Der große Einzelgänger der US-Literatur Cormac McCarthy legt einen Doppelroman vor und erzählt von Flucht, Verfolgung und Verrücktwerden.
Auf die Frage, warum er denn keine Anführungszeichen benutze für die wörtliche Rede seiner Romanfiguren, hat Cormac McCarthy mal in seiner unwirschen Art gesagt, er wolle die Buchseiten nicht unnötig mit herumwimmelnden Klein-Zeichen verunstalten. Das sollte selbstverständlich nur eine von McCarthys Schrullen und Eigenwilligkeiten sein. In Wahrheit verschärft er damit nur unsere Aufmerksamkeit für seine Dialoge, die auch jenseits seines Heimat-Territoriums USA zum Besten gehören, was die Schreibzunft zu bieten hat. Man muss sich beim Lesen schon eine genaue Vorstellung von der Szenerie machen, um den Wortwechseln mit der richtigen Blickrichtung folgen zu können.
McCarthy, ein Spezialist für düstere Szenarien, hat mit dem grauenvoll authentischen Endzeit-Roman „Die Straße“ das Maß des Menschlichen noch einmal neu bestimmt und mit „No Country for Old Men“ einen ziemlich buchstabengetreu verfilmten, angemessen brutalen Western-Abgesang über die Waffen-, Drogen- und Egomanie-Seuchen der US-Gesellschaft erzählt.
Cormac McCarthys weibliches Mathe-Genie in der Anstalt
Und nun ein Doppelroman in zwei Büchern, von denen das eine – „Stella Maris“ – reinweg aus einem Dialog der hochintelligenten Mathematikerin und Schizophrenie-Patientin Alicia Western mit ihrem Therapeuten in der Heilanstalt Stella Maris besteht. Sie foppt Dr. Cohen ein ums andere Mal, lässt seine Psychologen-Fragen ins Leere laufen, hält ihm deren Absurdität vor Augen. Und philosophiert: „Die Art, wie man die Welt erfährt, ist hauptsächlich ein Bollwerk gegen die unangenehme Wahrheit, dass die Welt nicht weiß, dass man existiert.“ Durch Alicia, die wahnsinnig daran wird, dass ihre Erkenntnisfähigkeit Grenzen hat (auch wenn sie weit jenseits der durchschnittlichen liegen), fließen auch Denkmotive von Abstraktionsriesen wie Wittgenstein, Whitehead und Bertrand Russell in den Roman. Was kein philosophisches System ergibt, sondern Gedankenmusik, deren Reiz im spielerischen Dialog liegt.
Im zweiten Roman „Der Passagier“ wird sich Alicia, die mit ihrem Bruder Bob in Los Alamos aufwuchs, wo ihr Vater an der Entwicklung der Atombombe mitarbeitete, das Leben nehmen; ihre schizophrenen Schübe geben dem „Passagier“ einen ganz eigenen, dramatischen Rhythmus. Sie kommentieren die Geschichte Bobbys, dem sie in mehr als geschwisterlicher Liebe verbunden ist und dessen Leben die abenteuerlichsten Wendungen genommen hat, von einem Rennfahrer-Leben in Europa, das mit einem beinahe tödlichen Unfall endet, bis hin zur titelgebenden Suche nach dem zehnten Passagier in einem abgestürzten Privatjet an der Küste vor New Orleans, wo Bobby als Bergungstaucher mit einem Kollegen hinabsteigt, der später unter mysteriösen Umständen umkommt.
Katastrophen des 20. Jahrhunderts aus Sicht der USA
Bob, der schon Besuch von zwei inquisitorischen Herren im Anzug hatte, begibt sich auf die Flucht und blickt immer wieder aus den 80er-Jahren, in denen der Roman spielt, auf die heillose zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, Hiroshima, Vietnam, das Kennedy-Attentat. In Diners, in Bars, an Kneipentischen, was den historischen Blick erdet.
Dass McCarthy seine tiefe Kenntnis von Erkenntnistheorie, Physik und Mathematik zuweilen überbordend ausspielt, ändert nichts daran, dass hier ein großes Alterswerk vorliegt – wer weiß, ob dem bald 90-Jährigen ein derartiger Kraftakt noch einmal gelingt.