Essen. Andrea Sanguineti wird 2023/24 Generalmusikdirektor der Essener Philharmoniker. Der Maestro will nicht nur der Mann fürs italienische Fach sein.

Wer im Klassikbereich Karriere macht, der wird gerne mal in eine Schublade gesteckt. Wenn ein italienischer Dirigent wie Andrea Sanguineti also am heutigen Samstag (26. November) eine Belcanto-Oper wie „Lucrezia Borgia“ dirigiert, dann dürfte das erst einmal die gängigen Erwartungen erfüllen. Dabei will Essens künftiger Generalmusikdirektor (GMD) alles andere als nur der Mann fürs italienische Fach sein. Mahler, Strauss und Wagner finden sich auf der Wunschliste des 39-Jährigen, der am Pult der Essener Philharmoniker aber auch weniger bekannte Komponisten und Komponistinnen vorstellen möchte.

Der neue GMD galt auch als Wunschkandidat des Orchesters

Ab Herbst 2023 übernimmt der Italiener offiziell die Nachfolge von Tomáš Netopil. Und kann mit dem Essener Orchester, das 2024 sein 125-jähriges Bestehen feiert, dann gleich in eine besondere Jubiläumssaison starten. Die Aussicht, sein Repertoire nicht nur im Bereich der Oper, sondern auch auf der Konzertbühne stärker auszubauen, sei für ihn ein „enormer Anreiz“ gewesen, erklärt Sanguineti, der schon in den vergangenen zwei Spielzeiten als Gastdirigent in Essen gearbeitet hat und nicht nur voll des Lobes für die höchst professionelle, freundliche und künstlerisch zielorientierte Arbeit des Orchesters ist, sondern auch von der Architektur und Akustik seiner neuen Arbeitsstätten schwärmt.

In Görlitz, wo er von 2013 bis 2018 die Neue Lausitzer Philharmonie als GMD geleitet hat, habe er sich bereits ein umfangreiches Konzertrepertoire angeeignet, berichtet Sanguineti. In Essen will der erklärte Wunschkandidat der Philharmoniker das bewährte postromantische Repertoire pflegen, aber auch in verschiedene Richtungen erweitern. So stehen beispielsweise auch rhythmisch akzentuierte Werke spanischer oder südamerikanischer Herkunft mit ordentlich „caliente“ auf der Wunschliste. „Aber wir werden auch die drei großen Bs, Beethoven, Brahms und Bruckner, haben“, versichert Sanguineti.

„Unsere Eltern haben uns an jedem Wochenende zu einem Wettbewerb chauffiert“

Auch Mozart ist für ein Thema. Und vielleicht wird man den Dirigenten dabei sogar einmal am historischen Hammerklavier erleben. Schließlich hat Sanguineti seine musikalische Karriere als Pianist gestartet. Als Vierjähriger bekam er den ersten Musikunterricht, die Lehrerin war streng und Andrea Sanguineti schon bald auf dem besten Weg zum Wunderkind. Da auch die beiden Brüder erfolgreiche Instrumentalisten sind, habe die Musik das Familienleben bestimmt. „Unsere Eltern haben uns an jedem Wochenende zu einem Wettbewerb chauffiert“, erzählt Sanguineti.

Von manchen würde derlei intensive Frühförderung mittlerweile kritisch gesehen, weiß auch der neue GMD und selber Vater. Gleichwohl sorge er sich, dass europäische Spitzenorchester ihre musikalische Exzellenz in 10, 20 Jahren womöglich kaum mehr aus den eigenen Reihen abdecken könnten und die musikalische Elite von morgen auf anderen Kontinenten mit strafferen Ausbildungsplänen heranwachse.

Premiere mit Umbesetzungen

„Lucrezia Borgia“ feiert am heutigen Samstag, 26. November, 19 Uhr, Premiere im Essener Aalto-Theater. Die Inszenierung stammt von Ben Baur.

Krankheitsbedingt gibt es an diesem Abend einige Umbesetzungen. Anstelle der erkrankten Aalto-Sopranistin Jessica Muirhead wird Marta Torbidoni zur Premiere die Titelrolle übernehmen. Anstelle von Almas Svilpa übernimmt Davide Giangregorio die Rolle des Don Alfonso. Als Maffio Orsini wird Na’ama Goldman statt Liliana de Sousa zu erleben sein. Tommaso Caramia springt für Baurzhan Anderzhanov als Don Apostolo Gazella ein.

Weitere Termine: 30. November, 4. Dezember, 5. und 14. Januar. Karten unter Tel. 8122-200 und online www.theater-essen.de

Für Sanguineti selbst war die Pianistenkarriere dabei keine Option. „Ich brauche Menschen um mich. Immer allein auf der Bühne zu sein, das wollte ich nicht.“ Mit zwölf Jahren durfte er bereits ein Kompositionsstudium in Genua beginnen und mit 23 als einer der Jüngsten im Fachbereich Orchesterdirigieren sein Diplom in Mailand machen. Seit vielen Jahren ist Sanguineti mittlerweile in Deutschland heimisch. Hannover, das Mainfranken Theater Würzburg und das Theater Görlitz zählen zu seinen festen Stationen. Aber auch an den Opernhäusern von Zürich, Graz und Strasbourg konnte sich Sanguineti mittlerweile international profilieren.

„Theater ist einzigartig und nur für den Moment gemacht“

Die Entscheidung, nun wieder fest an ein Haus zu gehen, begründet Sanguineti auch mit Wunsch nach „langfristiger künstlerischer Entwicklung“. Für eine stärkere Präsenz des GMD hatte sich im Vorfeld aber auch das Orchesters ausgesprochen. Der aktuelle Vertrag von Tomáš Netopil sieht derzeit nur eine begrenzte Anwesenheitspflicht in Essen vor. Sanguineti dürfte man deutlich häufiger auf dem Orchesterpult erleben. „Ich werde als GMD in Essen präsent sein, das ist mein Arbeitsstil“, verspricht der neue GMD.

Gerade ist er dabei, seine Wohnung in Essen einzurichten. Beim Gang durch die Stadt treffe er auch auf viele Menschen, die vielleicht noch keine Berührung mit Musiktheater und Konzert gehabt hätten. Ihnen die Kunst als beglückendes Live-Erlebnis näher zu bringen, ist Sanguineti ein wichtiges Anliegen. „Theater ist einzigartig und nur für den Moment gemacht“.

Und so wird er heute Abend im Orchestergraben des Opernhauses auch „Lucrezia Borgia“ mit Leidenschaft zum Klingen bringen. Inzest, Verrat und Intrigen – Donizettis Giftmischerin ist kein Dauergast auf deutschen Bühnen. Aber Sanguinetis Einladung ans Publikum lautet ohnehin: „Seien Sie bitte neugierig!“