Düsseldorf. Düsseldorfs Ballettchef Demis Volpi zeigt seinen Stuttgarter Klassiker „Krabat“ jetzt auch am Rhein. Das Premierenpublikum am Donnerstag jubelte!
Es war ein Jugendbuchklassiker im Ballettgewand, der vor knapp zehn Jahren die Fachwelt nach Stuttgart blicken ließ. Dort hatte ein 28-jähriger Tänzer das Wunder vollbracht, eine Choreographie für Menschen ab zehn zu schaffen, die Erwachsene nicht weniger mitriss. Das war „Krabat“, die junge Begabung hieß Demis Volpi.
2022 ist er Direktor des „Ballett am Rhein“, und dieser Tage berichteten wir von einem Coup, der auch Fachleute zu überraschen vermochte. Der Deutsch-Argentinier wechselt 2024 von Düsseldorf nach Hamburg, das mächtige, ja übermächtige Erbe eines Mannes anzutreten, der mit John Neumeier (83!) Volpis Großvater sein könnte.
„Krabat“ als Ballett am Rhein: Düsseldorfs Premierenpublikum feiert den Abend
Lange vor dieser Neuigkeit war die Einrichtung der Stuttgarter Kult-Inszenierung geplant. Aber natürlich gewinnt sie durch die Nachrichtenlage besonderes Augenmerk. Gewiss werden der Tanz und seine Sprache hier nicht neu erfunden, aber Volpis bestechende Einfühlsamkeit, im Wortlosen eine politisch wie menschlich so botschaftsgesättigte Geschichte zu erzählen, weist ihn in diesem Handlungsballett der besonderen Art als Hochbegabung aus.
Otfried Preußler war 15, als Hitler Deutschland in den Krieg trieb, mit eben 21 schon Kriegsgefangener in Russland. Welche individuelle Erfahrung Preußlers„Krabat“ auch gespeist hat: Das Märchen der Handwerksburschen, deren Müllermeister (Damián Torío) sie fasziniert, aber durch Menschenopfer auch im Pakt mit dem hahnenfedrigen Teufel steht, darf man geschichtsbewusst lesen.
„Krabat“: Otfried Preußlers Jugendbuch-Klassiker als starkes Tanzprojekt
Volpi aber drängt seinen „Krabat“ in keine Deutungsecke, er schenkt den Zuschauenden den tiefen Blick in den Abgrund allen Menschseins. Verführbarkeit, die zerstörerische Lust von Überlegenheit und Macht, das Janusköpfige allen Aufstiegs: Volpi fächert das durchaus märchenhaft auf vor einer bestechenden Kulisse. Kein Mühlrad, kein Bach, kein dunkler Forst – bloß eine Hundertschaft gewaltiger grauer Maltersäcke türmt Katharina Schlipfs geniales Bühnenbild auf zu einer finsteren Festung der Unentrinnbarkeit. Extrem fesselnd gerät Volpis Musikauswahl. Allein Komponisten des 20. Jahrhunderts regieren die Szenen, Volpi montiert sie aus Werken von Krzysztof Penderecki, Peteris Vasks, Philipp Glass und echten Mühlengeräuschen, die Christoph Kirschfink – nah an Wagners brutaler Maschinenmusik aus dem „Rheingold“ – abgemischt hat. Das Ergebnis ist eine Fieberkurve, die der Erzählung (auch Dank der äußerst subtil agierenden Düsseldorfer unter Leitung von Katharina Müllner) kongenial den Puls fühlt: unerbittlicher Thriller und Trauerspiel in einem.
Kostüme aus Sackleinen und pechschwarzen Federn, eine Bühne aus Getreidesäcken
Im Raben-Gefieder schwarzer Künste wie im blassen Sackleinen der Ausbeutung glänzt die Kompanie des Ballett am Rhein. Dieses knappe Dutzend Müllerburschen ist von schöner Individualität, ohne zwanghaften Profilierungsbedarf. Volpi setzt das Bewegungsvokabular zeitgenössischen Tanzes effektsicher ein. Der früh fallende Geselle Tonda (Daniele Bonelli) darf in seiner tödlich endenden Liebe zu Worschula (Doris Becker) im pas de deux auch klassisch zitieren. Klassisch erst recht die erlösende Welt der Dorfmädchen: Volpi lässt sie en pointe vor dem Schein-Idyll eines Landschaftsprospekts spazieren.
Es gibt in drei fast verfliegenden Stunden (bei zwei Pausen) viele Höhepunkte. Meisterlich indes, wie Volpi die Kitschgefahr der schließlichen Erlösung durch Liebe umgeht: Da wird in einem Spiel expressiver Körperlichkeit Miquel Matinez Pedros Krabat in einer zweiten Menschwerdung zum Embryo, schuld- und hilflos zugleich. Der Meister ist tot, die Mauern stürzen ein, die Gesellen fliehen fast nackt in die Welt hinaus. Auch Befreiung hat ihren Preis.