Essen. Taylor Swift, Multimillionärin und Song-Genie“, schert sich nicht um Erwartungen und knüpft mit dem neuen „Midnights“ ans Popgroßwerk „1989“ an.

In der Eröffnungszeile ihre neuen Songs „Anti-Hero“ lamentiert Taylor Swift mit zartem Augenzwinkern, sie werde bloß älter, nicht klüger. Aber da muss man ihr vehement widersprechen. So erwachsen und dabei verspielt, so abgeklärt und selbstironisch, so offen wie ein Buch, dabei lyrisch und doch immer noch hinreichend rätselhaft wie auf ihrem zehnten Studioalbum klang Taylor Swift noch nie. „Midnights“ ist das Werk einer gereiften Künstlerin, die sich mehr denn je vom Druck und Erwartungen ihres Metiers befreit hat und – oft genug eine Phrase, hier wahr – exakt die Musik macht, die sie machen will.

Die kommerziell wohl erfolgreichste und intensivst unterm Brennglas einer promibesessenen Öffentlichkeit stehende Popsängerin und Songschreiberin hätte stilistisch mit „Midnights“ überall hingehen können. Ende August kündigte die 32-Jährige das Album an, nach und nach verriet sie auf TikTok einzelne Songtitel und projizierte verschiedene Textfragmente auf eine Handvoll Großstadtwände von Sao Paulo bis Nashville. Aber über den Sound von „Midnights“ konnte man nur spekulieren.

Das Glück von Taylor Swift und Joe Alwyn schimmert durch

Alles blieb perfekt unter Verschluss, es gab keine Vorab-Single, nicht einmal Schnipsel. Würde Taylor Swift also zurückkehren zum prallen Zuckerwattesound ihres 2019er-Albums „Lover“, würde sie an ihren Pandemieplattendoppelschlag mit den zauberhaften, von Aaron Dessner produzierten, Indiefolk-Alben „Folklore“ und „Evermore“ anknüpfen? Würde die auf dem Dorf in Pennsylvania großgewordene und heute über ein Vermögen von einer geschätzten halben Milliarde verfügende Swift gar noch einmal ihre Wurzeln besuchen, nachdem sie zuletzt neuaufgenommene Versionen ihrer früheren Alben „Fearless“ und „Red“ veröffentlichte, weil sie an den alten Originalen nicht die Rechte besaß?

Tatsächlich stellt sich „Midnights“ – auf dessen Cover Taylor Swift an den französischen 70er-Look einer Françoise Hardy oder Jane Birkin erinnert – als weiterer überraschender Hakenschlag in dieser spektakulären, nun auch schon anderthalb Jahrzehnten währenden Weltkarriere heraus. Das Album, soundlandschaftlich vielleicht ihrem ersten Popgroßwerk „1989“ (2014) am nächsten, klingt bemerkenswert unaufdringlich, lässig, bisweilen gar beiläufig. Kein Bombast, keine Knalleffekte, kein Feuerwerk. Sondern schlaue, schlüssige, selbstbewusste Songs von einer Frau, die es – angesichts von Neidern, Frauenfeindlichkeit, Doppelmoral – auch nicht immer leicht hat, aber sich die Lust am Leben nicht länger nehmen lässt.

Lana del Rey sing auch einen Song mit, manches erinnert an Lorde

Besonders die Liebe nimmt auf „Midnights“, das, so Swift, das Ergebnis von dreizehn schlaflosen Nächten sowie einer Reise durch schreckliche und süße Träume sei, ungewohnt breiten Raum ein. Seit sechs Jahren ist sie nun mit den englischen Schauspieler Joe Alwyn liiert, und das gemeinsame Glück schimmert deutlich durch. „Lavender Haze“, das von Beats und – ansonsten auf der Platte keine Rolle spielenden – stimmverzerrenden Soundeffekten getragen wird, ist ein kraftvolles Bekenntnis zu dieser Beziehung trotz all der Missgunst, mit der das Paar bombardiert wurde. „Snow On The Beach“, auf dem die Kollegin Lana Del Rey mitsingt, ist ein zärtliches, eher gehauchtes und gesanglich bezauberndes Loblied ans Verlieben. Das verträumte, an Lorde erinnernde, „Maroon“ handelt in typischer Taylor-Detailverliebtheit vom Kennenlernen an einem Ausgehabend in New York. Der Song ist einer der besten der Platte, Swift wirkt hier wie eine gute Freundin, die einem Intimitäten aus ihrem Leben ins Ohr flüstert. Das am meisten an die „Folklore“-Phase erinnernde, fast akustische „Sweet Nothing“ schließlich haben Swift und Alwyn gar gemeinsam geschrieben.

Selbstverständlich scheint auf „Midnights“ nicht nur die Sonne. Taylor Swift thematisiert auch ihre Ängste, ihre Unsicherheiten. Im soundtechnisch relativ kernigen „Anti-Hero“ bekennt sie: „Sometimes I feel that everyone is a sexy baby/ And I’m a monster on a hill“, im besonders introspektiven und fein melodischen „You’re On Your Own, Kid“ reist Swift zurück in die einsamen Sehnsuchtssommer ihrer Adoleszenz, im finalen Stück „Mastermind“ beklagt sie sich, niemanden zum Spielen gehabt zu haben. Aber wo die Selbstzweifel sind, da wächst auch die Selbstbehauptung. An gleich mehreren Stellen tritt Taylor konservativen und antifeministischen Rollenvorstellungen in den Hintern. In „Labyrinth“ schimpft sie, die Leute würden immer noch diesen „1950er-Jahre-Mist“ von ihr fordern, in „Lavender Haze“ kritisiert Swift die Penetranz, mit der sie gefragt werde, wann ihr Freund sie denn zur Ehefrau mache. Über ihr altes Boyfriend-verschlingendes Böse-Hexen-Image kann sie indes endlich lachen („Got a long list of ex-lovers / They’ll tell you I’m insane“).

Jack Antonoff, der Lorde und Lana Del Rey produziert, macht es cool und anspruchsvoll

Produziert hat Taylor Swift das Album erneut mit dem „Lover“-Kollaborateur Jack Antonoff, der auch Lorde und Lana Del Rey betreut. Antonoffs Spezialität sind auch auf „Midnights“ diese verschlafen verschleppten, bass-starken Beats gepaart mit großflächigem Einsatz von Synthesizern. Der Sound ist cool und anspruchsvoll, manchmal, wie auf dem an Billie Eilish erinnernden „Midnight Rain“ auch urban-bedrohlich-düster; hier und da wünscht man sich bei aller Subtilität und Souveränität vielleicht etwas weniger betörendes Dahinplätschern und etwas mehr von dem Biss, mit dem sie in „Karma“ (mutmaßlich) Ex-Freund Jake Gyllenhaal verspeist.

Doch trotz leichter Mängel ist „Midnights“ eines der charismatischsten und besten Popalben des Jahres. Und Taylor Swift stellt final unter Beweis, dass sie in der Ära des von einzelnen Songs, Algorithmen und künstlicher Intelligenz getriebenen Musikkonsums ein Leuchtturm ist. Niemand sonst in den Charts oder den Stadien besitzt so eine große Palette an Ausdrucksmöglichkeiten. So eine weiß auch mit dem zehnten Album noch für eine kleine Sensation zu sorgen.