Essen. Jeder ist eine Insel – und keine Spur von Nordsee-Romantik: Dörte Hansen versammelt in ihrem neuen Roman „Zur See“ allerlei gestrandete Typen.

„Zur See“ ist ein Titel mit doppeltem Boden. Natürlich feststehender Begriff, dorthin fährt, wer auf dem Meer arbeitet; kein Touri sagt sowas von sich. „Zur“ ist in Dörte Hansens binnen Wochenfrist auf Bestsellerplatz eins geschossenen Roman zugleich eine ganz gewöhnliche Präposition. Schöner sagt man: Verhältniswort. Tatsächlich gibt es niemandem in Hansens Personal, von dem wir nicht sehr genau erfahren werden, was das Meer mit und aus ihm gemacht hat.

Nah bis in die vom Wetter gezeugten Knitterfalten hält Hansen die Lupe an ihre Leute. Im Zentrum eine Sippe: die Sanders. Hanne hatte mal Fremdenzimmer, für die die Kinder ihre Räume opfern mussten. Sie ließ sich im Fremdenverkehrsbüro austragen, als das „neue“ Publikum kam, sie ist doch kein Wellness-Nest. Ihr Mann Jens fährt nicht mehr raus, präpariert tote Vögel, sie sind ihm lieber als jeder Mensch...

Helden, die gar keine Helden sind

Wollen wir sie Helden nennen? Lauter Friesen, die ihre Seelen über alle Erfahrungen verbarrikadiert haben vor dem Rest der Welt, Partner eingeschlossen. Aber den anderen rund um die Sanders geht es nicht besser. Pastor Lehmann etwa, von dem die Frauen schwärmen, und der das Joggen als Sport gewählt hat, weil man gar nicht so schnell angequatscht werden kann, wie man wieder weg ist. Weg ist jetzt auch seine Frau. Als die Kinder ihnen zuvor ein Romantik-Wochenende schenkten, hatte das Paar irgendwie vergessen, was man da macht. Hansens Geschichten verkehren John Donnes berühmtes Zitat „Niemand ist eine Insel“ – jeder ist eine.

Dörte Hansen, zu Hause in Husum, räumt in „Zur See“ schonungslos auf mit aller Romantik, ob wir sie als Sommergäste nun auf Kuttern oder in Katen verorten. Und wenn man auch gewiss nicht von großer Literatur reden kann: Hansens (vom Journalismus geprägte) Beobachtungsgabe ist das zentrale Kapital dieses Buches.

Präzise Beobachtung

Diese Genauigkeit, mit der sie Menschen, Zeiten, Ereignisse (ein gestrandeter junger Wal wird zum Sinnbild dieses fauligen Kosmos’ Insel) beschreibt, beschert lustvolle, nie aber voyeuristische Lesemomente. Denen steht mitunter Hansens schwer erträgliches Pathos im Weg, mal nah am Blankvers, mal an der kitschigen Alliteration siedelnd, wenn „in der Wonne immer schon die Wehmut lag“.

Mit dem gebundenen Buch ist auch eine ungekürzte Hörfassung erschienen, Nina Hoss liest es mit kühlem Ton und mit jener Sachlichkeit, die Hansens Figuren längst zur zweiten Haut geworden ist.

Dörte Hansen, Zur See, Penguin, 256 Seiten, 24€. Hörbuch: Random House, 6 CDs, 24€