Frankfurt/M. . „Vielleicht sind wir heimwehkrank“: Bestsellerautorin Dörte Hansen über dörfliche Sehnsucht – und das neue Werk „Mittagsstunde“.
Für ihr Romandebüt „Altes Land“ hatte die Journalistin Dörte Hansen ihren Job beim Hörfunk gekündigt, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können. Das könnte man „wahnsinnig“ nennen, nur gab ihr der staunenswerte Bestsellererfolg recht: Wochenlang, ja monatelang stand ihr Debüt auf Platz 1, war der meistverkaufte Roman 2015. Also: nicht wahnsinnig, sondern „mutig“ war die heute 54-Jährige. Nun ist sie vom alten Land nahe Hamburg zurück in die Husumer Heimat gezogen und seziert im neuen Wurf „Mittagsstunde“ einmal mehr das Dorfleben. Mit Britta Heidemann sprach Dörte Hansen über Gemeinschaft und Enge, Freiheit und Flurbereinigung.
Frau Hansen, Sie sind thematisch auf dem Dorf geblieben. Was fasziniert Sie so daran?
Das ist ein Ort, an dem ich mich auskenne; auch, wenn ich inzwischen die meiste Zeit meines Lebens in der Stadt gewohnt habe. Ich weiß, wie Dorfleben funktioniert. Und ich habe das Gefühl, dass das Thema nicht auserzählt ist, dass es immer noch mehr urbane als rurale Literatur gibt. Oft liegt in der Gegenwartsliteratur die Deutungshoheit über das Dorf eher bei Leuten, die dorthin ziehen.
Sie hingegen sind in einem Brinkebüll aufgewachsen?
Das Dorf hieß Högel, es hatte rund 500 Einwohner. Als ich dort aufwuchs, hatten wir alles im Dorf, manches sogar doppelt: zwei Läden, zwei Kneipen. Eine Schule, eine Meierei, eine Bäckerei und natürlich ganz viele Bauernhöfe. Heute können Sie dort nichts mehr kaufen, die Kinder fahren morgens mit dem Schulbus los – das hat sich innerhalb weniger Jahre sehr verändert.
Genau so beschreiben Sie es im Roman. Und die Flurbereinigung gab es dort auch?
Ich bin groß geworden in der Zeit, in der alles kahl war, in der man alles wegrasiert hatte. Die Knicks, also die Wälle zwischen den Feldern, hat man eingeebnet. Es ging darum, die Felder zu vergrößern, die Zufahrtswege zu verbessern. Man hat auch die Bauernhöfe ausgesiedelt, die Dörfer waren sehr eng damals. Ziel war, die Felder zu größeren Einheiten zusammenzulegen.
Ein Zukunftsdenken, dass das Dorf verändert hat.
Ja, sehr. Im Negativen wie im Positiven. Dass ich hier sitze, dass ich überhaupt Abitur machen konnte, studieren konnte, ist letztlich auch Folge eines Umdenkens: Die Bildungswelle der 60er Jahre führte dazu, dass plötzlich ein Bücherbus in unser Dorf kam.
Es gibt zwei markante Frauen-Figuren im Roman, denen das Dorf zu eng wird: Marret und Gönke.
Bei Marret ist es so, dass ihr Lebensraum verschwindet. Sie findet keinen Ort mehr, an dem sie sich verstecken kann, keine Büsche mehr, in denen sie ihre Vogelnester und -skelette sammeln kann. Ihre Welt geht wirklich unter. In Gönke habe ich meinen Cameo-Auftritt, auch wenn ich nicht ganz so einsam, nicht ganz so begabt war wie sie. Ich habe das Dorf nicht gehasst und auch meine Muttersprache nicht. Aber ich war auch jedesmal am Bücherbus, obschon ich nicht mit der Sackkarre dorthin gefahren bin wie Gönke. Aber die Gitarre, mit der ich meine Familie gequält habe, die gab es schon, und Joan Baez habe ich auch geliebt.
Gab es auch Hippies in Ihrem Dorf?
Ja, in den 70er Jahren kamen die Künstler und Musiker. Die sind nicht ausgegrenzt worden, auch wenn sie anders waren. Es sei denn, sie haben gegen gewisse Regeln verstoßen: Nicht „Moin“ sagen, das ist schon ein Vergehen! Als ich mit meinen Eltern in Husum war als Kind, mussten mir meine Eltern erst einmal beibringen, dass man dort nicht zu jedem Menschen „Moin!“ sagen muss.
Wir Stadtmenschen bleiben die Zugezogenen, oder?
Ich glaube tatsächlich, dass wir auf dem Weg in ein nomadisches Zeitalter sind. Diejenigen, die neu aufs Land ziehen, leben nur auf dem Land und nicht vom Land. Das ist ein großer Unterschied. Dem Land ausgeliefert zu sein, seine ganze Existenz mit dem Land, dem Dorf zu verbinden, das kommt kaum noch vor. Trotzdem scheint es gewisse Sehnsüchte noch zu geben. Warum haben so viele Leute in der Stadt einen Schrebergarten, warum haben wir so viele Haustiere? Vielleicht sind wir heimwehkrank. Heute müssen wir uns selbst verorten, entscheiden, wie wir leben wollen. Das ist eine Freiheit, die ihren Preis hat.
Sie werfen im Roman die Frage auf, was man tun muss, um aus dem Dorf ausgeschlossen zu werden: Der Vater, der seine Kinder prügelt, wird dennoch zu jedem Fest geladen.
Es gibt da nicht viel, was mir einfällt, was zu einem Ausschluss führen würde. Da muss schon viel passieren. Das Dorf war auch eine Überlebensgemeinschaft.
Ihr Romanheld Ingwer bereut irgendwann, vom Dorf weggezogen zu sein. Gab es bei Ihnen je diesen Moment?
Ich wollte unbedingt weg vom Dorf, auch wenn mir dort niemand etwas getan hatte. Es hat nie eine Alternative gegeben. Ingwers Problem war vielleicht, dass er nicht wusste, wohin. Er ist in ein Leben hineingerutscht und dort hängen geblieben. Das ist eine Aufgabe, die man hat, wenn man sich gegen das Dorf entscheidet: Man muss überlegen, wohin man will. Das ist vielleicht ein Prozess, der nie abgeschlossen ist: Die Frage, wie möchte ich leben, wird mich beschäftigen, solange ich lebe.
Gutes vom Lande: Dörte Hansens „Mittagsstunde“
So geht Bestseller: Wenn Dörte Hansen die schrullige Marret mit düsteren Prophezeiungen – „De Welt geiht ünner“! – durch Brinkebüll schlurfen lässt, dann erinnert sie an Mariana Lekys filigrane Figurenführung („Was man von hier aus sehen kann“) – nur mit ganz eigenem Witz.
Zugleich analysiert sie die sozialen Mechanismen des Dorfes so gekonnt wie Juli Zehs „Unterleuten“ – eher besser, weil näher dran. Kurz: „Mittagsstunde“ (Penguin, 320 S., 22 €) ist Abgesang auf das Dorfleben und zugleiche (kritische) Erinnerung, liebevoll und traurig und warm.