Essen. Neu im Kino: „Mona Lisa and the Blood Moon“, „Vesper“, „Me, We“, „Igor Levit – no fear“ und „Alles über Martin Suter außer der Wahrheit“.

Weltfremde Streifzüge durch die Gossen des amerikanischen Traums, eine Bio-Hackerin auf der Suche nach der Lösung für die Probleme einer zerstörten Welt, Macht und Ohnmacht beim Umgang mit Flüchtlingen, ein von Querflöten träumender Star-Pianist namens Igor Levit und eine Dokumentation über den großen Literaten Martin Suter – die Kinostarts dieser Woche im Überblick.

„Mona Lisa and the Blood Moon“
Eine entlegene Irrenanstalt in Louisiana: Die junge Asiatin Mona Lisa Lee übernimmt die gedankliche Kontrolle über das Personal und flieht nach New Orleans. Hier stößt sie auf den Drogendealer Fuzz (Ed Skrein mit Fußballerfrisur), der sie gegen alle Erwartungen respektiert. Ein Polizist versucht sie erfolglos festzunehmen. Die Stripperin Bonnie (ganz schön abgerissen: Kate Hudson) freundet sich mit Mona Lisa an und nimmt mit ihrer Hilfe erst die Club-Gäste und dann Kunden am Bankautomaten aus. Bonnies kleiner Sohn erkennt, dass seine Mutter die Freundin nur ausnutzt. Darauf beschließt Mona Lisa, die Stadt zu verlassen.

„Mna Lisa and the Blood Moon“: Unterwegs in den Gossen des American Dream.
„Mna Lisa and the Blood Moon“: Unterwegs in den Gossen des American Dream. © 141 Entertainment

Kultregisseurin Ana Lily Amirpour lässt nach ihrem lyrischen, atmosphärischen Debüt „A Girl Walks Home Alone At Night“ (Vampirin im Iran) und dem hysterischen „The Bad Batch“ (Teengirl unter Kannibalen) nun die Südkoreanerin Jeon Jong-seo („Burning“) im Stil einer extrem maulfaulen X-Mutantin durch die Gossen des American Dream streifen. Immer gilt dabei: Wer nicht so pariert, wie sie das gern hätte, bekommt das zu spüren.

Als vorgebliche Parabel über persönliche Freiheit in einer chaotischen Gesellschaft orientiert sich der Film an Vorbildern aus den 80ern. Die Gedankenkontrolle, so bedrohlich in David Cronenbergs „Scanners“, ist hier aber nur ein unerklärtes Mittel zu Erfüllung von Spontanwünschen. Auch die filmische Form (extremer Einsatz des Weitwinkelobjektivs) wirkt recht beliebig. Das Resultat ist eine seltsam naiv anmutende Comic-Fantasie, die weniger radikal als vielmehr weltfremd ist.

„Vesper“
Das Ökosystem der Erde ist nach leichtfertigen Genexperimenten zusammengebrochen. Die Reichen leben abgeschirmt in Zitadellen, der Rest schlägt sich im freien Feld durch, wo mutierte Pflanzen gefährliches Eigenleben entwickelt haben. Die halbwüchsige Bio-Hackerin Vesper will einen genetischen Code entschlüsseln, mit dem Samen wieder fruchtbar gemacht werden können. Eine junge Frau aus der nördlichen Zitadelle eröffnet Vesper ein Geheimnis, das der Welt eine neue Richtung geben kann.

Gedeckte Farben, aber hochspannend: „Vesper“, Science-Fiction mit geschickten Effekten und guten Schauspielern.
Gedeckte Farben, aber hochspannend: „Vesper“, Science-Fiction mit geschickten Effekten und guten Schauspielern. © Plaion Pictures

Die Litauerin Kristina Buozyte und der Franzose Bruno Samper entwickeln seit knapp 15 Jahren futuristische Stoffe, auch für Projekte mit virtueller Realität. Mit ihrem zweiten Kinofilm wählen sie nun einen ästhetischen Bezug auf franko-belgische Comic-Kreative der 80er- und 90er-Jahre wie Alejandro Jodorowski oder Enki Bilal, aber auch auf den sowjetischen Filmpoeten Andrej Tarkowski („Stalker“).

Zwischen High-Tech-Ausrüstung und mittelalterwürdigem Überlebenskampf entfaltet sich ein atmosphärisch dichtes, glaubwürdig erzähltes Endzeitszenario, das seinen Mangel an farblicher Leuchtkraft mit einfallsreichen Effekten und guten Darstellern ausgleicht. Im geschickten Einsatz dieser Mittel überraschend spannend.

„Me, We“

Eine Studentin will vor der Küste von Lesbos Menschenleben retten. Der Leiter eines Asylantenheims ficht einen Machtkampf mit einem Bewohner aus. Eine alleinstehende Frau nimmt einen Flüchtling auf. Und Jugendliche gründen einen Begleitservice für Frauen, als Schutz vor angeblichen Übergriffen von Migranten. Vier Geschichten zur Flüchtlingskrise hat Filmemacher Dennis Clay Diaz in seiner Tragikomödie miteinander verwoben.

Es geht um Aspekte der Zuwanderung in diesem Episodenfilm österreichischer Produktion. Und es geht um Macht und Ohnmacht. So gerät Marie (Verena Altenberger) auf einem Flüchtlingsretter-Schiff an ihre Grenzen. Heimleiter Gerald (Lukas Miko) wird immer aggressiver. Petra (Barbara Romaner) gängelt und begehrt ihren jungen Mitbewohner gleichermaßen. Marcel (Alexander Srtschin) und seine Kumpels haben nichts zu tun, außer Bier trinken und ihre rechte Gesinnungen pflegen. Verbindend wirkt das Fußballfinale 2020 in Wembley. „Ein Gewinner steht fest und das ist Europa“, heißt es wie Hohn.

Am Ende der etwas lang geratenen 115 Minuten stehen Abschied und Neubeginn – und eine gewisse Ratlosigkeit. Aber die ist dem Thema wohl angemessen.

„Igor Levit – no fear“

Pianist Igor Levit: ein Workaholic, dem seine Liebe zur Musik alles abverlangt.
Pianist Igor Levit: ein Workaholic, dem seine Liebe zur Musik alles abverlangt. © epd | Peter Juelich

Am Anfang lehnt ein besorgter Pianist über dem Treppengeländer: „Um Gottes Willen!“ Der Flur ist eng, der Transport des Klaviers in die Wohnung schier unmöglich. „Im nächsten Leben spiele ich Querflöte“, überlegt Igor Levit. Dass Berufung auch Last bedeutet, zeigt Regina Schilling in ihrer Doku auch im Kleinen. Sie hat den Tastenstar knapp zwei Jahre in seinem Alltag und bei Konzerten begleitet.

Der Film beobachtet den Pianisten und seinen Produzenten und Tonmeister Andreas Neubronner im Tonstudio beim Ringen um den perfekten Klang. Er zeigt, wie der heute 35-jährige Levit seine Nervosität vor Auftritten niederkämpfen muss. Er begleitet einen einsamen Mann im Hotel – ist bei Interviews dabei, beim Twittern, Kochen, Shoppen und natürlich beim Klavierspielen; Beethoven-Fans werden auf ihre Kosten kommen. Und er stellt den politischen Igor Levit vor, der sich für die Grünen engagiert; am Ende setzt ihn die Kamera bei einem Konzert bei der Besetzung des Dannenröder Waldes gegen einen Autobahnneubau in Szene.

Aber man lernt auch einen Besessenen kennen, einen Workaholic, dem seine Liebe zur Musik alles abverlangt. Ein kluges Künstlerporträt, das zeigt, dass Erfolg vor allem eins ist: harte Arbeit.

„Alles über Martin Suter außer der Wahrheit“

Eine Dokumentation, die wahrscheinlich nur diejenigen interessieren wird, die schon einmal Martin Suter gelesen haben. Da es sich bei diesen Menschen aber um mehrere Millionen handelt und Suters Bücher mit sechsstelligen Startauflagen herauskommen, dürfte es wohl genügend Interesse daran geben, mit dem 74-jährigen Schweizer Star-Autor in den Keller seiner Kindheit herabzusteigen, um dort die alte Apfelkiste wiederzuentdecken und zu hören, wie der Autor als Junge dort Karl May heimlich gelesen hat, weil sein Vater meinte, der sei früher mal verboten gewesen.

Suter mag die Vorstellung nicht, im Schreiben bei Lesern auf der Therapeuten-Couch zu liegen und bevorzugt statt der schriftstellerischen Seelenöffnung das Erfinden von Geschichten: „Mein Motiv ist immer das Gleiche“, sagt er in der filmisch durchsetzten Dokumentation von André Schäfer, „ich möchte eine Geschichte mit einem Geheimnis erzählen“.

Dafür ist seine Phantasie so präzise, dass eine Fachfrau es fertigbrachte, erfundene Häuser seiner Romane mit einem Architektur-Zeichenprogramm zu visualisieren. Aber ob es wirklich so interessant ist, wie sich einer mit spärlichen Drogenerfahrungen für seine Story einen LSD-Trip zusammenreimt?

Wenn Martin Suter zum Schluss von der Pflicht der Gutverdienenden spricht, ihr Geld auch wieder „unter die Leute zu bringen“, kommt das sympathisch rüber – aber der Satz „Ich hasse Schnäppchenjagd“ muss für all jene, die zum Überleben darauf angewiesen sind, einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.