Dortmund. Mit dem Musical „Cabaret“ kann man in der Dortmunder Oper einen großen Abend erleben. Gil Mehmert formt den Stoff zum präzisen Realitäts-Spiegel.

Live is a Cabaret. Regisseur Gil Mehmert nimmt den Refrain des titelgebenden Songs in seiner Inszenierung wörtlich. Bei ihm ist ganz Berlin ein Cabaret, und Heike Meixner hat ihm die passende Bühne dazu gebaut. Die aufwendig gestaltete, drehbare Konstruktion ist verruchter Nachtclub und gutbürgerliche Pension zugleich. Hier entwickelt sich die bittersüße Romanze zwischen der charmant opportunistischen Nachclubsängerin Sally Bowles (Bettina Mönch) und Clifford Bradshaw (Jörn-Felix Alt) dem amerikanischen Schriftsteller mit flexiblen Präferenzen.

Mehmert arbeitet mit der ursprünglichen Musicalfassung (übernimmt jedoch die für die legendäre Verfilmung mit Liza Minnellihinzukomponierten Gesangspartien). Und er vertraut dem Stück. Die detailverliebte Ausstattung – selbst Herrn Schultzes Obstladen ist bis auf die Apfelsine genau nachgebaut – transportiert präzise das Zeitkolorit der späten 20er-Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts. Zunächst wirkt das ein wenig bieder, und doch oder vielleicht gerade deshalb ist der Gegenwartsbezug in jedem Augenblick greifbar. Stalin ist auf der Kabarettbühne Stalin und Mussolini Mussolini, dennoch denkt man unmittelbar an die aktuellen Wiedergänger.

Bettina Mönch erinnert am Ende mehr an Maria Callas als an Liza Minnelli

Anfangs sind es nur Kleinigkeiten, die ein diffuses Gefühl der Bedrohung erzeugen: Erinnert der goldene Kopfschmuck, den die Revuegirls tragen, wenn im gleichnamigen Song das Vaterland besungen wird, nicht ein wenig an das von der faschistischen Ideologie vereinnahmte Sonnenrad? Warum sieht man einen größenwahnsinnigen Diktator mit dem Globus jonglieren, wo die Tänzer doch nur mit glitzernden Kugeln hantieren? Unterschwellige Angst trifft hier immer wieder auf offensive Realitätsverleugnung: Sobald die „Girls and Boys“ den vor dem Orchester in den Zuschauerraum hinein gebauten Halbkreis betanzen, hält es einen kaum noch auf dem Sitz. Das ist nicht nur der mitreißenden und fein ausdifferenzierten Choreografie von Melissa King geschuldet; viel Freude machen auch die auf halber Strecke zwischen frivol und gehandarbeitet angesiedelten Kostüme von Falk Bauer. Und die Dortmunder Philharmoniker, die unter der Leitung von Damian Omansen auch in kleiner Besetzung großes „Yee-haw“ erzeugen.

Wenn dazu der Conférencier (hinreißend mephistophelisch: Rob Pelzer) die riesige Klaviatur mit Riesenhänden bespielt, weckt das heitere Alice-im-Wunderland-Assoziationen. Und doch bedarf es nur einer Veränderung der Beleuchtung und ein paar uniformierter Statisten, um die Szenerie in einen surrealen Alptraum kippen zu lassen. Life is a Cabaret – das war schon immer mehr ein verzweifeltes Trotzdem als eine Hymne an die Dekadenz. Als jedoch die überragende Bettina Mönch das Stück am Ende vortrug und dabei in ihrer emotionalen Verausgabung und ihrem Mut zu rauen Tönen fast mehr an Maria Callas denn an Liza Minnelli erinnerte, hielt das Publikum kollektiv den Atem an: Ein großer Abend. Düstere Prophetie in sexy Verpackung.