Beobachten, Zuhören, das Puzzle Mensch zusammensetzen: Was Ferdinand von Schirach kann, zeigt er auch in seinem neuen Werk „Nachmittage“.

Vor drei Jahren hatte Bestsellerautor Ferdinand von Schirach schon einmal in einer Mischung aus kurzen und längeren Texten mehr von sich selbst gesprochen als sonst. „Kaffee und Zigaretten“ hieß der Band, in dem er aus Alltagsbegegnungen detailscharf und pointiert vom Kleinen auf das Große kam und unsere Zeit durchleuchtete. „Nachmittage“ nun liest sich wie eine Fortsetzung in 26 durchnummerierten Texten.

Deren Voraussetzung ist es, dass ihr Autor vor Jahren aus der Kanzlei gewechselt ist auf die Kanzel des Schriftstellers, der für Lesungen und Interviews unterwegs ist. Angesiedelt sind die Texte rund um die Welt. Auftritte oder Schreibexile führten ihn aus Berlin nach Oslo, Tokio, Wien oder Marrakesch, wo er sich Gedanken macht, mal in Essays oder auch präzisen Sentenzen.

Ferdinand von Schirach jüngstes Buch besteht aus 26 Texten: „Nachmittage“

Immer wieder kommt es zu zufälligen Begegnungen, während denen er Geschichten erfährt, die dann zu Erzählungen im typischen Schirach-Sound werden. Eine polnische Journalistin redet von der Zensur in ihrem Land, eine in Taipeh entwickelt eine märchenhafte Landeskunde.

Eine bestens situierte kalifornische Anwältin berichtet, wie ihre Beziehung zerbrach. Den Uhren-Traub aus Tautzingen hatte er einmal als Strafverteidiger vertreten, jetzt trifft er ihn in der Ferne wieder, und er erzählt ihm sein Leben wie noch niemandem zuvor. In solchen besten Fällen entwickeln die Storys einen unwiderstehlichen Sog. In einer italienischen Palladio-Villa vertraut ihm eine desillusionierte Frau an, wie und warum sich der Ekel in ihre Beziehung einschlich, bis ihr Mann einen Unfall inszenierte. Auf einem Selbstmörderfriedhof im Grunewald wird ein Mann aus der Vergangenheit des Autors in ein anderes Licht gerückt und später dann in Hamburg noch ein weiterer. In Tokio wird ihm das Besondere solcher Situationen in der Fremde bewusst: „Es gibt Geschichten, die man nur in einer solchen Bar nachts einem Fremden erzählen kann.“

Allmähliche Entblößung: Von Schirach zeigt das wahre Gesicht der Dinge und Menschen

Innerhalb des Prozesses des Aufschreibens dann entblößen die Dinge allmählich ihr wahres Gesicht. Mitunter ist das zu sehr auf eine Pointe hin geschrieben, meist aber ist das enorm präzise entwickelt. Dabei verschweigt der Autor in dieser Art autobiografischem Flickenteppich weder seine Erschöpfung noch seinen gelegentlichen Überdruss. Immer wieder versichert er sich bei anderen Referenzautoren. Goethe etwa wusste vom Menschen: „einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen … sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll.“

In vielen Essays und kleinen Gedankenspielen setzt Schirach Lebensdetails ihm wichtiger Künstler punktgenau in Szene und findet Verwandte im Geiste: F. Scott Fitzgerald und Hemingway, Anselm Kiefer und Ingeborg Bachmann, Thomas Mann und Alberto Giacometti. „Kunst hat keine Aufgabe, sie darf es gar nicht, wenn sie frei sein soll. Kunst ist keine Macht, sie kann nur Trost sein.“ Immer wieder und immer wieder anders wird in diesem Buch davon erzählt, dass wir uns nicht entkommen können.

„Nachmittage“ zeigt das Menschsein auch als großes Puzzle“

So werden diese Geschichten von unterwegs zu einem großen Puzzle, das die Geworfenheit des Individuums einkreist. Und doch gibt es auch Texte über das Erringen von fragilem Glück. Eine erfolgreiche Konzertpianistin verweigert sich dem Betrieb, indem sie in einer Bar Satie spielt. Einer aus dem Geldadel Amerikas findet nach einem Initiationserlebnis im Irak seine Mitte in Oslo. Und ein grandioser Autor weiß um den Schutz, den solche Geschichten in der Kälte vor den Abgründen bieten können. Das ist nicht wenig.

Ferdinand von Schirach: Nachmittage. Luchterhand. 176 S. 22€