Essen. Der Pop macht sich das Fremde zu eigen, damit Jugendliche sich anders als die Erwachsenen fühlen können. Dieses Gesetz hat Jens Balzer erkannt.
Die Deutschen waren schon gleich nach 1945 Reiseweltmeister. Zumindest im Schlager. Was da gefernweht wurde, was da an exotischen Schauplätzen heraufbeschworen und an klischeeprallem Kokolores beträllert wurde, ging auf keine Gnuhaut. „Pedro aus Caracas“ reimte sich auf Ananas, „Schön und braun“ waren „alle Fraun in Kingstontown“, und in „Tipitipitipso“ radebrechte Caterina Valente wie eine Deutschkursanfängerin.
Ohnehin waren Namen wie Valente oder der von Vico Torriani von Vorteil. Und wenn man Gerhard Tschirschnitz hieß, nannte man sich eben René Carol, um Erfolg zu haben. Oder firmierte als eine der unzähligen Hawaii-Gruppen wie das Hula Hawaiian Quartett, das auch schon mal „Jim, Johnny und Jonas“ an Java vorbeifahren ließ. Und wenn man mit Ironie auf sich selbst blickte, nannte man sich „Die Eingeborenen von Trizonesien“.
Rudi Schuricke, Caterina Valente und Vico Torriani: Akustische Exotik-Bäder
Man muss kein Volksseelenkundler sein, um darin die Sehnsucht zu erkennen, der eigenen Misere zu entfliehen, sich weder mit der eigenen Gegenwart noch mit der unseligen Vergangenheit beschäftigen zu müssen. Die „Caprifischer“ erlebten erst in der Nachkriegszeit ihren Riesenerfolg – bei der ersten Veröffentlichung 1943 war Rudi Schurickes Lied noch weitgehend unbeachtet geblieben.
Man kann solche akustischen Exotik-Bäder allerdings auch als Versuche überhöhen, „das Fremde zu etwas Eigenem“ zu machen, wie Jens Balzer das in seiner Kulturgeschichte der deutschen Populärmusik nach 1945 unter dem Titel „Schmalz und Rebellion“ tut. Im Pop geht es allerdings genau darum: Das Aufbegehren gegen die Elterngeneration sucht sich eine Sprache, einen Sound, der anders ist als das, was die Älteren gut finden. „Das Eigene im Pop ist das Fremde“, spitzt Jens Balzer dies zu.
Als die „Halbstarken“ losprügelten, aber nicht wussten, was „Shake, Rattle and Roll“ hieß
So gesehen beginnt der Pop in Deutschland eigentlich erst mit den frühen Anhängern des Rock’n’Roll, an deren Spitze die „Halbstarken“ im Ruhrgebiet und in Berlin die Saalbestuhlungen zu Kleinholz verarbeiteten. Mit englischsprachiger Musik, deren extrem anzügliche Texte nur deshalb niemandem die Schamesröte in die Wangen triebt, weil kaum jemand verstand, dass mit „Shake, Rattle and Roll“ wilder Sex und mit „Tutti Frutti“ eine ausgeprägte Oberweite gemeint war. Wenn die Eltern entsetzt „Hottentotten-Musik“ aufschrien, war das Ziel erreicht: Wir sind anders als Ihr und Eure Schnulzen! Vielleicht hätte Balzer doch den Schlager (als generationenübergreifend gängig) stärker vom (generationstypischen) Pop trennen sollen.
Ansonsten aber zeichnet Balzer die Genese der deutschsprachigen Popmusik sehr kundig nach – wie also aus der neuen Identität, die eine ganze Jugendgeneration im englischen Pop jedweder Spielart gefunden hatte, die Vorlage für die Deutschsprachigkeit von Punk und Neuer Deutscher Welle in den 80ern wird. Wobei das Idiom von BAP und die Singweise von Herbert Grönemeyer ja durchaus fremdsprachliche Qualitäten aufweisen. Der (Pseudo-)Tiefsinn von deutschem Krautrock und anglo-amerikanischem Bombast-Rock fand jedenfalls seine Antwort in ausgesprochenem Leicht- und Blödsinn à la „Da, da, da“ und „Ich will Spaß, ich geb Gas.“
Aggro-Rap für Mittelschicht-Kids
Im Pop finden das Avantgarde-Prinzip der Moderne (an der Spitze der Entwicklung steht, wer anders ist als die bisher Tonangebenden) und der Innovationsbedarf des Kapitalismus zueinander wie sonst nur in der Mode. Und so folgt dann auf die sprach- und denkkritische „Hamburger Schule“ der frühen 90er-Jahre mit Blumfeld und Tocotronic dann der Deutschrap der Nullerjahre mit Bushido und Sido: Er eignet sich angloamerikanische Vorbilder an, verdoppelt aber mit migrantischen Protagonisten („Fremd im eigenen Land“) das Befremden über Sexismus, Brutalität und Kriminalitätskult. Für weiße Mittelschichtskinder ein gefundenes Provokationsfressen, ähnlich identitätsstiftend wie Rammsteins Spiel mit Blut- und Boden-Versatzstücken.
Darin könnte auch eine Erklärung für den Erfolg der Saufhymne „Layla“ liegen: Je enger die Grenzen des Sagbaren durch Emanzipations-Fortschritte wie #MeToo werden, desto Verlockender das Kokettieren mit Verstößen. Damit allerdings hätte eine Art Kernfusion von Pop und Schlager stattgefunden.