Essen. Die Tristesse der 70er ist vorbei, die Zeichen stehen auf Aufbruch. „Die Magnetischen“ sind eine Zeitreise - samt Iggy Pop und The Undertones.
Es ist das Jahr 1981, ein neues Jahrzehnt beginnt. Alle Zeichen stehen auf Aufbruch. In der französischen Provinz wird der Wahlsieg François Mitterrands gefeiert. Eine Schicksalsnacht. Philippe und Jerome sind dabei. Die Politik interessiert sie jedoch nur am Rande. Die Welt der Brüder ist der Radiosender, den sie auf dem Dachboden betreiben. Erst als Philipp zum Militärdienst muss, wird sich wirklich alles ändern.
2021 feierten „Die Magnetischen“ in Cannes Premiere. Vincent Maël Cardona (Buch und Regie) erhielt für seine Mischung aus Charakterdrama und 80er-Zeitporträt dem César für den Besten Debütfilm. Zu Recht! Der in Sepiafarben gedrehte Film entpuppt sich als Glücksgriff, nostalgisch-verklärter Blick zurück inklusive.
Philippe ist der Mann an den Reglern
Thimotée Robart ist Philippe, ein sympathischer, introvertierter junger Mann mit jungenhaftem Lockenkopf. Dem Sieg Mitterrands kann er wenig abgewinnen; im Gegensatz zum älteren Bruder Jerome (Joseph Olivennes) hat er die Konservativen gewählt. Beim Radio sitzt er an den Reglern, wo er mit Musik, Geräuschen und Klängen experimentiert, während Jerome moderiert.
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Die beiden sind grundverschieden. Philipp ist der Träumer, Tüftler, Techniker, der Mann im Hintergrund. Seine Stimme mag er nicht hören, weil sie sein Innerstes wiedergibt. Lieber kommuniziert er über Musik: The Undertones, Joy Division (ein in der Originalversion mit französischem Akzent wunderbar klingender Name!), Gang of Four, Iggy Pop und die Elektronik-Band Front 242 sorgen bei den „Magnetischen“ für einen allgegenwärtigen, supercoolen Soundtrack.
Als Marianne (Marie Colomb) eines Morgens aus dem Bett seines Bruders steigt, verschlägt es Philippe wieder mal die Sprache. Die junge attraktive Frau ist mit ihrer Tochter aus Paris in die verschlafene bretonische Kleinstadt gezogen. Philippe ist schockverliebt. Gegen seinen älteren Bruder jedoch mag er erst nicht antreten; Jerome ist der Freak, der Langhaarige, der Unangepasste, der zugedröhnt durch die Straßen zieht. Er ist der Mutige, der sich daheim mit dem Vater anlegt. Probleme scheinen sich bei ihm in Luft aufzulösen: Vom Militärdienst in West-Berlin wird er ausgemustert, T4, „idiotisch, unangepasst“.
Nur der jüngere Bruder Philippe muss zum Militär nach West-Berlin
Philippe stellt sich stumm, fliegt auf – und wird eingezogen. Ein neuer Abschnitt. Die Kindheit ist Geschichte. Zum Abschied erhält er von Marianne eine selbst aufgenommene Musikkassette: außen individuell gestaltet, mit einer persönlichen Songauswahl. Auch das waren die Achtziger, ebenso wie die Schallplatten, Kassettendeck, Sony-Walkman, die Telefonzellen, der Kalte Krieg, das geteilte Berlin und das Gefühl, dass alles möglich ist, das Schlechte und das Gute.
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Philippe schöpft Hoffnung. Aus West-Berlin nimmt er via Radio („Teenage Kicks“ in einer ziemlich schrägen DJ-Version) Kontakt zu Marianne auf. Und er wird reifer. Bald sitzt er auch beim Militärradio an den Reglern und freundet sich mit Kader (Younès Boucif) an: „Die Tristesse der 70er ist vorbei“, ahnt dieser bereits. „Musik, Marken und Kunst werden die Welt verändern, nicht die Politik.“
„Die Magnetischen“ sind erholsam unaufgeregt und alles in allem optimistisch
„Die Magnetischen“ sind kein Liebesfilm, auch kein Kain-und-Abel-Drama, obwohl anfangs vieles danach aussieht. Sie sind viel mehr die wohltuend unaufgeregte, heiter-melancholische Geschichte eines jungen Mannes, der seine Stimme finden muss. Und ein Mutmach-Film sind sie auch – für die Suche nach dem eigenen Weg, auch wenn er mal steinig ist. Am Ende steht ein mehrfacher bitterer Abschied, steht aber auch Hoffnung. Schön so etwas. Bisweilen scheint selbst die aus der Mode gekommen zu sein.
>>> Auszeichnungen für „Die Magnetischen“ <<<
„Die Magnetischen“(98 Minuten) wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem in Cannes in der Sektion Quinzaine des Réalisateurs und mit dem César (Bester Debütfilm). Shooting Star Thimotée Robart wurde für seine Leistung mit dem Prix Lumière ausgezeichnet.