Essen. „Blumfeld“-Kopf Jochen Distelmeyer und sein neues Soloalbum „Gefühlte Wahrheiten“ – eine Begegnung.
Ausgeruht ist er an diesem Morgen. Auch den „Traumzeit“-Auftritt am Vortag bei 30 Grad („Es war auf jeden Fall heiß!“) hat Jochen Distelmeyer ohne größere Abnutzungserscheinungen weggesteckt. Wobei die 13 Jahre seit dem letzten Solo-Album keineswegs im Zeichen der Selbstschonung standen: Sein Romandebüt „Otis“ trug ihm ein geteiltes Feuilleton-Echo ein. Eine Platte als Interpret englischsprachiger Fremdkompositionen (von Lana del Rey bis Britney Spears) quittierte manch Anhänger der ersten Stunde mit Stirnrunzeln. Aber auch eine gefeierte Konzertreise mit seiner wiederformierten Band Blumfeld in Ur-Besetzung hat den 55-Jährigen unter Strom gehalten.
Von den Dingen, die ihn sonst noch umtreiben, erzählt sein aktuelles Werk „Gefühlte Wahrheiten“: Zwölf Songs, musikalisch in einem steten Fluss zwischen R&B, Pop, Folk, Country und Blues schippernd, vereint die neue Platte. Wobei Distelmeyers Lust zur Kontroverse ungebrochen ist. Nicht allein, weil der vielleicht letzte Liedermacher des Landes nun auch drei selbstverfasste Songs in englischer Sprache vorstellt. Sondern vor allem inhaltlich, wenn er als Mann in den besten Jahren von schwitziger Körperlichkeit kündet und mit dem Schlafzimmertimbre eines Marvin Gaye über Begierde und Verlangen singt.
Jochen Distelmeyer, der Blockadenräumer und Verklemmungslöser
Hat er keine Angst, in den Ruch der Lüsternheit zu geraten? „Nein,“ wendet er entschieden ein. „Kontraproduktiv finde ich eher, wenn man stellvertretend über das Begehren anderer spricht, um über das eigene Begehren vornehm bis verklemmt schweigen zu können.“ Und Schweigen ist nicht unbedingt die Sache des engagierten Diskurspop-Granden. Auch wenn mancher Hörer bei Zeilen wie „Blicke sagen mehr als Worte“ oder „Spiel mit dem Feuer“ die gereimte Beliebigkeit von Schlagertexten aufscheinen sieht, entzündet sich die Kritik an der Oberfläche. Denn im Kern ist Distelmeyer weniger als trivialer Schnulzenbarde unterwegs, sondern als Blockadenräumer und Verklemmungslöser: „Ich möchte den Leuten die Angst nehmen und einen anderen Zugang zu ihrem inneren Empfindungsreichtum eröffnen“, umreißt er seine Berufung und verweist auf ein „vitales Orchester an Gefühlen“, das in uns tönt.
In seiner Opulenz ist das selbst dann noch hörbar, wenn Distelmeyer seine Zeilen in der zweiten, sparsamer produzierten Albumhälfte größtenteils nur noch mit der Akustikgitarre untermalt. Das Große im Kleinen ist eine Kunst. Seine Kunst.
Jochen Distelmeyers Vorgänger-Album „Heavy“ handelte von platzenden Blasen
Wobei: Das Große ist bei Jochen Distelmeyer, der auch schon eine Pop-Vorlesung am Bochumer Campus der Folkwang-Universität gehalten hat, auch immer das Gesellschaftliche. Wie schon beim Vorgänger-Album „Heavy“, das von platzenden Blasen handelt – im privaten Beziehungsgeflecht ebenso wie global. Damals, zum Ende der Nullerjahre, waren die Finanzmärkte implodiert. Heute sind es vor allem die Sozialen Medien, an denen sich der Wahl-Berliner abarbeitet.
Sein Schlachtruf für eine Rückbesinnung aufs reale Miteinander ist „Zurück zu mir“, neben „Im Fieber“ der poppigste Song auf der neuen Platte: „Ich finde es unappetitlich und hochproblematisch, wie die Sozialen Medien Einfluss auf unsere Stimmungslage, auf die Art des Umgangs miteinander nehmen“, bemängelt er. Aber: Portale wie Facebook & Co. bieten im vielstimmigen Getöse auch Künstlern wie ihm eine Plattform, sich Gehör zu verschaffen. Ein Widerspruch, den Distelmeyer zwar nicht auflösen kann, aber mit einem Verweis auf einen Ex-Beatle charmant wegpointiert: „John Lennon hat gesagt, ihm sei es egal, in welchen Briefkasten er seine Sachen steckt – Hauptsache, die Post kommt an.“ Hier wird der politische Mensch kurzzeitig zum Pragmatiker.
Von der „Hamburger Schule“ zur „Hamburger Freiheit“
Musikalisch offenbart „Gefühlte Wahrheiten“ einmal mehr, dass der punkrockgetriebene Rebell von einst seinen Reifeprozess längst abgeschlossen hat. Ein Blick zurück: Alles Kantige, das Distelmeyers Band Blumfeld mit lärmenden Stromgitarren-Liedern wie „Verstärker“ zu einer Indie-Ikone und Aushängeschild der „Hamburger Schule“ werden ließ, begrub bereits das radiofreundlichere Album „Old Nobody“ von 1999. Eine Hinwendung zum Eingängigen nahm ihren Anfang, die seiner Band auch Vergleiche mit einer bayrischen Popschlagerband eintrugen: „Hamburger Freiheit“ titelte ein Fachblatt damals. Die Häme perlte ab, weil Distelmeyer selber sein Wirken immer als ein System ohne stilistische Grenzen verstanden hat.
Musikalisch darf’s dann auch mal gefällig sein, wobei seine kluge Textpoesie einem moralischen Kompass folgt. Im Distelmeyer-Sprech heißt das: „Für mich sind alle ästhetischen Entscheidungen, die ich in meiner Arbeit treffe, auch immer ethische Entscheidungen.“ Und so ist auch „Gefühlte Wahrheiten“ ein gleichermaßen couragiertes wie melodienreiches Album. Ein komplexes und geschlossenes Werk, inhaltlich auf der Höhe seiner Zeit, das musikalisch ein niederschwelliges Angebot macht.
Jochen Distelmeyer will es „gar nicht so hoch hängen. Es sind Liebeslieder“
Den größten Gewinn fährt dabei Distelmeyers Stimme ein: Es gibt kaum einen Sänger deutscher Zunge, der in seiner Muttersprache den Blues ähnlich mollig, Country-Songs derart selbstverständlich und schmachtige Soul-Nummern so sahnig zu intonieren versteht wie Distelmeyer. Selbst Phrasen erstrahlen durch seine Phrasierung.
Alle Fragen zu seinen Songs konnte er an diesem Morgen nicht beantworten, bevor er sein Jackett wieder zuknöpft: „Ich will es auch gar nicht so hoch hängen. Es sind Liebeslieder in einer Zeit, die ich als eher lieblos und freudlos empfinde.“ Den Großteil der Dechiffrierungsarbeit überlässt der Künstler weiterhin dem Hörer. Und der muss sich bewusst sein, dass alle Interpretationen lediglich das sind, was Distelmeyer seinem neuen Werk als Titel vorangestellt hat: „Gefühlte Wahrheiten“.