Dortmund. Aus dem Kaiserstuhl nach Westfalen. Julia Wissert ist derzeit Deutschlands jüngste Intendantin. Ihr Chefsessel steht im Theater Dortmund.
Es gibt gewiss leichtere Jobs als jenen, den Julia Wissert jetzt antritt. Die 36-jährige Regisseurin ist ab der kommenden Saison neue Intendantin des Dortmunder Schauspiels, das in den letzten Jahren unter Leitung von Kay Voges enorme Erfolge feierte. Julia Wissert steht jetzt vor der kniffeligen Aufgabe, neue künstlerische Wege zu finden und gleichsam verlorene Zuschauer zurück ins Boot zu holen, die Voges zuvor verprellte. Ein Spagat, dem sie dennoch optimistisch entgegen blickt, wie die designierte Theaterchefin im Gespräch mit Sven Westernströer verrät.
Willkommen in Dortmund! Haben Sie sich gut eingelebt?
Julia Wissert: Auf jeden Fall. So langsam entdecke ich die Stadt. Ich bin vor einer Weile aus Berlin hierher gezogen und habe mir jetzt die Aufgabe gestellt, jede Woche einen neuen Ort oder eine Dortmunder Besonderheit zu erleben. Letztens habe ich einen Salzkuchen probiert, weil mir gesagt wurde, dass es kaum etwas Typischeres für diese Stadt gibt. Lecker!
Wie sind Sie zum Theater gekommen?
Ich stamme vom Kaiserstuhl nördlich von Freiburg. Zum Theater kam ich durch Zufall über die Freundin meiner Mutter, die ich in der Straßenbahn traf. Von ihr hörte ich, dass am Theater Freiburg bei Barbara Mundel eine Regiehospitantin gesucht wird. Ich habe einfach mal „ja“ gesagt, obwohl ich keine Ahnung hatte, was der Job beinhaltet. Kurze Zeit später war ich Assistentin, und von da an ging das immer weiter.
Haben Sie Vorbilder?
Natürlich gibt es Menschen, deren Wertevorstellungen mich sehr interessieren. Die Sängerin Solange Knowles finde ich ziemlich gut. Auch die Autorin Claudia Rankine hat mich tief beeindruckt, weil sie schafft, strukturelle Machtverhältnisse in ihren Texten sichtbar zu machen. Und ich bin ein riesiger Fan von Michelle Obama, die hart für ihren Erfolg gearbeitet hat. Jetzt ist sie die Stimme einer ganzen Bewegung selbstbewusster Menschen überall auf der Welt.
Ähnliche Ansätze verfolgen Sie in Ihren Theaterarbeiten, die sich oft auf der Grenze zwischen Musiktheater, Performance und Installation bewegen. Werden Sie diesen Stil in Dortmund weiter verfolgen?
Ja bestimmt. Ich würde mir wünschen, hier aktuelle Themen und Fragen des Zeitgeistes sinnlich auf die Bühne bringen zu können. Das heißt aber nicht, dass ich kein Interesse an klassischen Texten habe. Ich kann mir auch vorstellen, mal eine griechische Tragödie zu inszenieren.
Sie sind bald Deutschlands jüngste Intendantin. Ist das für Sie Bürde oder Chance?
Ich bin eher überrascht darüber, dass das überhaupt ein Thema ist, weil ich längst nicht die erste Frau bin, die mit Mitte 30 eine Intendanz an einem großen Haus bekommt. Man denke nur an Amélie Niermeyer. Doch in letzter Zeit gibt es leider nicht mehr viele junge Frauen in dieser Position. Da stelle ich mir die Frage: Bewerben sich wirklich weniger Frauen als Männer? Und wenn ja, warum? Ich habe da noch keine Antwort drauf. In Deutschland gilt immer noch der merkwürdige Grundsatz, dass erst mit hohem Alter die Erfahrung für eine solche Position kommt, was ich hinterfragen wollen würde.
Was sind Ihre stärksten Talente für den Job der Intendantin?
Die Frage ist eher, wie ich mir eine gute Intendantin vorstelle. Ich bin neugierig auf die Menschen und möchte ihnen zuhören – dies nicht nur im Theater, sondern überall. Ich möchte mit dem Team suchen nach künstlerischen Stimmen und Formaten, die für die Stadt passend und inspirierend sein könnten. Gleichzeitig möchte ich auch ein Bewusstsein für politische Strömungen haben und brennende Fragen der Zeit im Theater verhandeln. Und es ist immer gut, Humor zu haben!
Worüber lachen Sie gern?
Ganz ehrlich? Ich liebe Slapstick und bin ein unendlicher Jerry-Lewis-Fan. Das habe ich schon als Kind gern im Fernsehen gesehen. Erst später auf der Regieschule habe ich verstanden, dass die Form der „physical comedy“ eine extrem hohe Virtuosität hat. Das ist ungeheuer genau und präzise gearbeitet.
In Ihrer ersten Spielzeit zieht es Sie hinaus in die Stadt. Sie suchen den direkten Kontakt mit den Dortmundern und arbeiten auch viel mit Laien. Planen Sie eine Art Bürgerbühne?
Nein, unser Anspruch ist nicht, aus Bürgern Schauspieler zu machen. Wir wollen aber in jedem Fall dafür sorgen, dass es einen Dialog mit uns und dem Publikum gibt. Die Zuschauer sollen weit mehr sein als nur die vierte Wand. So planen wir unter dem Titel „Neue Arbeit“ eine Produktion von France-Elena Damian, in der es um die verschiedenen Aspekte von Arbeit geht. Das Publikum „erspielt“ sich die Vorstellung. In meiner Eröffnungsinszenierung „2170“ wandern wir gemeinsam durch die Stadt. Fünf Autoren haben dafür Texte für Orte in Dortmund geschrieben, an denen wir die Stadt zum Klingen bringen werden.
Dabei treten Sie in die großen Fußstapfen Ihres Vorgängers Kay Voges, der das Dortmunder Theater zu einer der führenden Bühnen in NRW gemacht hat. Bereitet Ihnen das Sorge?
Überhaupt nicht. Ich freue mich, an ein Theater zu kommen, das bereits jetzt in der Stadt so extrem sichtbar ist. Das ist natürlich Kay und seinem Team zu verdanken. Die Dortmunder interessieren sich für ihr Schauspielhaus, das finde ich total super.
Welche Zuschauergruppen liegen Ihnen am Herzen?
Unser ideales Publikum sind alle! Speziell wären es Menschen, die sich für innovative künstlerische Formen interessieren und sich klassische Texte auch gern neu erzählen lassen. Wir wünschen uns ein Publikum, das Fragen hat und sich mit der Welt, in der wir leben, auseinandersetzt. In den „Coroniken“ soll es im Oktober um die Erfahrungen der Menschen mit der Corona-Krise gehen. Die Bühne steht allen offen. Jeder kann erzählen, wie es ihm in der Einsamkeit während des Lockdowns ergangen ist. Einer erzählt, wir hören zu. Die Begegnung miteinander steht im Zentrum.
Aber was sagen Sie der 58-jährigen Sachbearbeiterin, die gerne ins Theater geht am liebsten den „Zerbrochenen Krug“ oder „Der Geizige“ sehen möchte? Wird sie bei Ihnen glücklich werden?
Auf jeden Fall wird sie das! Zum Beispiel mit „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck in der Inszenierung von Milan Peschel. Er macht ganz starkes Ensembletheater. Das wird aufregend, berührend und bewegend. Auch den „Faust“, einen nicht ganz unkomplizierten deutschen Klassiker, würde ich ihr empfehlen, der in der Inszenierung von Mizgin Bilmen einen Twist in die Zukunft bekommt. Dabei werden wir Technologie des Live Video Paintings ausprobieren.
Ließe sich da vielleicht von Ihrem Kollegen Florian Fiedler lernen? Er gilt in Oberhausen als gescheitert. Da kommt einfach keiner mehr, weil sich niemand angesprochen fühlte. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Ich denke nicht, dass Florian Fiedler gescheitert ist. Dinge brauchen Zeit, um zu wachsen. Ich hätte mir gewünscht, dass so ein inspirierender und innovativer Kollege dem Land NRW weiter erhalten bleibt. Dass er geht, finde ich schade. Es braucht wie in jeder Beziehung einfach Zeit, bis man es schafft, mit dem Publikum gemeinsam zu wachsen. Unsere erste Spielzeit sehe ich auch nur als Vorschlag. Die 58-jährige Sachbearbeiterin wird sich darin aber hoffentlich genauso wiederfinden wie ein queerer Techno-DJ aus der Nordstadt.
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Zur Person:
Julia Wissert wurde 1984 geboren. Sie studierte Media Arts und Drama an der University of Surrey in London und Regie am Salzburger Mozarteum. Seit 2015 ist sie freie Regisseurin. Für ihre Arbeit „2069“ am Schauspielhaus Bochum wurde sie für den Jugendtheaterpreis des Heidelberger Stückemarkts nominiert.
Ihre Eröffnungspremiere „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?“ ist am 3. Oktober.