Düsseldorf. Mit freundlicher Hilfe von Altmeister John Neumeier gelingt Demis Volpi durch seine „Vier neue Temperamente“ der Durchbruch beim Ballett am Rhein

Phlegmatiker wanken in Gluthitze am Atlantikstrand, Sanguiniker leben ihre Energie aus, Choleriker beben an allen Gliedmaßen und Melancholiker begeben sich auf die manchmal schmerzhafte Suche nach der verlorenen Zeit. Vier Temperamente – eine Aufteilung von Charakteren, die erstmals Hippokrates in der griechischen Antike formulierte – dazu fünf Choreographien aus drei Generationen, darunter vier Uraufführungen: all das vereint Demis Volpi zu dem spannungsgeladenen Ballettabend „Vier neue Temperamente“: Die Premiere in Düsseldorf wurde nach abwechslungsreichen drei Stunden mit Jubel gefeiert.

Seine zweite Saison als Chef des Balletts am Rhein beenden Volpi und seine junge, gut trainierte Kompanie mit einem Kraftakt. Der intensive Abend mit fünf Tanzstilen ist der Durchbruch für Volpi als Gestalter: Er mündete besonders für John Neumeier, den Schöpfer des finalen Melancholie-Stücks „From time to time“, in einem Triumph und langanhaltenden Ovationen. Denn nach zeitgenössischen Klängen, peitschenden Techno-Beats und einer Bearbeitung von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ setzte der weltweit gefeierte Altmeister Neumeier (83), fast 50 Jahre Chef des Hamburger Balletts, auf Simon and Garfunkel und den ersten Satz von Schuberts letzter B-Dur-Sonate, deren Leit-Melodie durchwoben ist von Todesahnung und Abschied.

„Vier Temperamente“ von George Balanchine als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt ist das neoklassische Stück „Vier Temperamente“ von George Balanchine, uraufgeführt 1946 in New York zu Paul Hindemiths gleichnamiger Serenade. Die akademisch strengen Bewegungen in geometrischen Linien und scharfkantigen abstrakten, ästhetischen Bilder in Blau-Weiß-Schwarz bestechen auch heute noch durch ihre Klarheit.

Der Reigen der neuen Fassungen beginnt mit „Phlegmatic Summer“ – kreiert von Michèle Anne de Mey, der belgischen Expertin für zeitgenössisches Tanztheater. Vor der Videoprojektion von rauschenden Atlantik-Wellen und sonor tönenden Schiffshörnern wiegt eine enggedrängte Menschengruppe wie auf einem überladenen Boot hin und her. Kaum sackt einer in die Knie, da stützen ihn Mitreisende und stabilisieren ihn wieder. Das Opus zeugt von lyrischer Kraft und setzt überwiegend auf den Sog meditativer Langsamkeit, von der sich die Tänzer erst in Demis Volpis „Sanguinic: con brio“ befreien. Zu den freitonalen Klängen von Jörg Widmann bewegen sich acht Solisten temperamentvoll und energiegeladen in Reihen, reizen technische Bravour aus, kommen kurz in Pas-de-deux zusammen und kreisen zum Schluss hektisch mit ihren Armen. Letzteres zum rhythmischen Klatschen von Minimal-Komponist Steve Reich. Volpi überzeugt hier in erster Linie durch starke Tanzsequenzen.

John Neumeier lässt in einer halben Stunde ein ganzes Leben vorbeiziehen

Dann steigert sich die Intensität in „Choleric“ von Hélène Blackburn. Zu dröhnenden Beats, wie bei einer Techno-Party (Martin Tétreault), zeigen Tänzer, wie es in ihrem Inneren brodelt. Sie beben und zittern mit Armen und Händen. Manchmal wirkt ihr leicht gebeugter Rumpf wie versteift. Männer und Frauen in schwarzer Kluft steigern Wut und Zorn, verausgaben sich und sind, mit stummen Schreien aus aufgerissenem Mund, kurz vor der Explosion.

Aus einer anderen Welt dann der junge Mann (Julio Morel) in Neumeiers subtilem Gesamtkunstwerk. Ein romantisches Solo tanzt er, allein auf weiter Flur. Voller Sehnsucht blickt er in seine Vergangenheit, schaut auf eine Milchglas-Wand, hinter der seine Familie an einem Tisch sitzt. Wie in einer Traumsequenz tanzt er leidenschaftlich mit der Mutter, dem Vater, dem Bruder und mit einer jungen Frau, einem Ebenbild seiner Mutter. Die wehmütige Melancholie gipfelt in der Begegnung mit sich selbst – einem Jugendbild, in Gestalt eines jungen Tänzers in der gleichen Kleidung wie er. Eng umschlungen will er ihn festhalten. Klar, dass das nicht gelingt. Ein Geheimnis bleibt es, wie Neumeier mit so einfachen Mitteln ein ganzes Leben in 30 Minuten vorbeiziehen lassen. Und damit tief berührt.

Bis 15. Juni, dann wieder ab 21. Sept. Termine: www.operamrhein.de TEL: 0211/ 8925.211