Mülheim/R. Die deutsch-israelische Autorin Sivan Ben Yishai gewann mit „Wounds Are Forever (Selbstporträt als Nationaldichterin)“ Mülheims Dramatikpreis.

Sivan Ben Yishai
Sivan Ben Yishai © Max Zerrahn

Am Ergebnis der öffentlichen Diskussion konnte eigentlich kein ernsthafter Zweifel bestehen, und am Schluss ging alles tatsächlich ganz schnell. Der mit 15.000 Euro dotierte Mülheimer Dramatikpreis 2022 geht an die deutsch-israelische Autorin Sivan Ben Yishai für ihr Stück „Wounds Are Forever (Selbstporträt als Nationaldichterin)“. Vier der fünf Jury-Mitglieder stimmten für „das kühnste Stück“ des Wettbewerbs, das vom Nationaltheater Mannheim präsentiert worden war.

Aktivismus und Kunst verknüpft

Projiziert auf eine Person, verkörpert von der Autorin selbst, vermittele „Wounds“ den „Parforceritt einer modernen Schamanin durch 100 Jahre Weltgeschichte“. Die fantastische Reise durch die Abgründe und Verstrickungen deutsch-israelisch-palästinensischer Geschichte verknüpfe Aktivismus und Kunst zu einer neuen Form; indem sie sich selbst als Protagonistin in das Stück eingeschrieben habe, schaffe Sivan Ben Yishai eine schlagende „Verbindung jüdischer Selbstermächtigung und feministischer Vergeltung“. Nur Jury-Mitglied Dorte Lena Eilers, Professorin für Kulturjournalismus an der Münchner Hochschule für Musik und Theater, gab ihre Stimme Teresa Dopler und „Monte Rosa“.

Der Entscheidung vorausgegangen war ein fast zweistündiges Ringen um eine Reduzierung von sieben auf vier „echte“ Preiskandidaten. Die Jury aus Eilers, der Schauspielerin Leila Abdullah, Regisseur Robert Borgmann, der Chefdramaturgin der Bühnen Bern Felicitas Zürcher und dem Wiener Kritiker Wolfgang Kralicek als Sprecher des Auswahlgremiums nahm schließlich „White Passing“ von Sarah Kilter aus dem Rennen.

Thirza Brunckens Texthinrichtung

Der Begriff stammt ursprünglich aus den USA und meint Farbige, die aufgrund hellerer Hauttönung, Bildung, gesellschaftlicher Position usw. „als Weiß durchgehen“. Die junge Berlinerin mit algerischem Vater reflektiert auf mehreren kunstvoll verwobenen Ebenen die Widersprüchlichkeiten und Absurditäten des deutschen Bildungsbürgertums; mit der Frage „was ist typisch deutsch?“ stellt sie zugleich die Frage nach sich selbst. Gut möglich dass, obwohl beim Stücke-Wettbewerb der Text zur Diskussion steht, der Eindruck der zuvor gezeigten Uraufführungs-Inszenierung des Schauspiels Leipzig nachwirkte. In einer überdimensionalen Einkaufstasche mit Artikeln aus dem Supermarkt bewegen sich drei puppenhafte Darstellerinnen, von denen zwei unschwer als Barbie und Ken auszumachen sind, von Pose zu Pose und quäken, quietschen sich in höchstem Falsett durch den in seiner Vielschichtigkeit kaum noch zu erfassenden Text. Um es böse zu sagen: In ihrem Hang zu Grellem, Schrillem, Artifiziellem hat Regisseurin Thirza Bruncken wieder einmal ein Stück regelrecht hingerichtet.

Auf der Strecke blieb auch „Mutter Vater Land“ des jungen Esseners Akin Emanuel Şipal. Das autofiktionale Stück war in der Inszenierung des Theaters Bremen im Ringlokschuppen zu sehen. Das etwas zu sentimentale, konventionell gebaute Stück mit teilweise wirklich starken Dialogen spannt einen Erinnerungsbogen vom Jahr 1914 in ein utopisches 2063 und wirft, auch am Beispiel des renommierten Schriftsteller-Großvaters, einen ungewöhnlichen Blick auf türkische Intellektuelle in Deutschland, auf die deutsch-türkische Gesellschaft überhaupt.