Mülheim. Die nominierten Stücke für die Mülheimer Theatertage 2022 stehen fest. 170 Uraufführungen standen zur Wahl – plus 35 Kinder-Stücke. Wer kommt.

Trotz oder gerade wegen der Pandemie waren die deutschsprachigen Dramatiker im vergangenen Jahr sehr produktiv. Die Auswahlgremien für die 47. Mülheimer Theatertage (7. bis 28. Mai) hatten es mit einer Rekordzahl an Uraufführungen zu tun. 170 Stücke für Erwachsene gab es zu sichten – fast 40 mehr als in den meisten anderen Jahren. Außerdem standen 35 Kinder-Stücke für die Nominierung zum Wettbewerb zur Wahl.

Das Arbeitspensum für die Theaterexperten war also groß wie nie zuvor. „So viele Stücke waren ernsthafte Kandidaten, das Niveau war diesmal sehr hoch, die Vielfalt groß – thematisch wie formal“, berichtete Wolfgang Kralicek, Sprecher des Gremiums für die Erwachsenen-Stücke bei der Bekanntgabe der Nominierten am Mittwoch. Sieben Stunden lang habe man getagt und über die Beiträge beraten, bevor eine Entscheidung feststand.

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Neue Generation deutscher Dramatikerinnen

Und die ist ganz erstaunlich: Denn unter den sieben nominierten Autorinnen und Autoren befinden sich vier Mülheim-Debütanten. Außerdem ist die Frauenquote so hoch wie nie: Lediglich ein Mann zählt zu den Nominierten, sechs der Ausgewählten sind (zumeist recht junge) Frauen. Und von diesen haben und thematisieren laut Auswahlgremium drei einen Migrationshintergrund. „Wir haben es mit einer neuen Generation deutscher Dramatiker zu tun. Sie ist jung und weiblich“, so Wolfgang Kralicek.

„All right. Good night“, heißt das Stück von Helgard Haug (mit Musik von Barbara Morgenstern), das ebenfalls für den Wettbewerb nominiert ist.  
„All right. Good night“, heißt das Stück von Helgard Haug (mit Musik von Barbara Morgenstern), das ebenfalls für den Wettbewerb nominiert ist.   © Mülheimer Theatertage | Merlin Nadj-Torma

Die Grande Dame der zeitgenössischen Dramatiker ist allerdings auch wieder dabei: Elfriede Jelinek hat wie schon so oft spontan auf die aktuellen Ereignisse im Land reagiert und ein Stück zur Pandemie geschrieben. „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ lautet der Titel. Wortgewaltig und unter Bezug auch auf antike Texte beschreibt die Autorin, wie es trotz Corona zuging in den Wintersportorten Österreichs oder in deutschen Fleischfabriken. Zu sehen sein wird in Mülheim die „deftige und drastische Inszenierung“ von Karin Beier vom deutschen Schauspielhaus Hamburg.

Drei Teilnehmer waren bereits in Mülheim dabei

Während Jelinek schon 21 Mal zu den „Stücken“ eingeladen wurde und viermal den Dramatiker- sowie zweimal den Publikumspreis gewonnen hat, war Sivan Ben Yishai erst einmal – nämlich 2020 – beim Festival dabei. Diesmal wird ihr neuestes Werk „Wounds are forever“ (Selbstporträt einer Nationaldichterin) vorgestellt. Es geht dabei unter anderem um ihr Leben als israelische Frau in Deutschland. Die Autorin „surfe“ zudem durch Zeiten und Länder. Die Inszenierung stammt von Marie Bues, Nationaltheater Mannheim.

Ebenfalls nicht unbekannt in Mülheim ist die Autorin Helgard Haug vom Autoren-Regie-Team Rimini Protokoll, das 2007 den Dramatiker- und 2014 den Publikumspreis erhielt. Diesmal hat Haug mit „All right. Good night“ eine Solo-Arbeit abgeliefert. Sie verknüpft darin zwei reale Ereignisse – das Verschwinden eines Flugzeugs über dem Meer mit der fortschreitenden Demenz ihres Vaters. „Es ist kein Schauspiel, sondern ein Text-Konzert-Setting. Der formal wohl ungewöhnlichste Beitrag“, so der Sprecher des Auswahlgremiums.

Nach zwei digitalen Ausgaben jetzt wieder live

Beim Wettbewerb 2022, der nach zwei digitalen Ausgaben nun wieder live über die Bühne gehen soll, wird es nicht nur ernst zugehen. Auch Komödien gehen an den Start. Darunter „Jeeps“ von Nora Abdel-Maksoud. Die Autorin sei, so Wolfgang Kralicek, auf „schnelle politische Komödien spezialisiert“. Ihr aktuelles Stück beschäftigt sich mit der gerechteren Verteilung von Vermögen, mit der Idee, was wäre, wenn Erbschaften einfach verlost würden. Bei der Inszenierung der Münchner Kammerspiele hat sie selbst Regie geführt.

Auch „Mutter Vater Land“, ein Stück von Akin Emanuel Sipal (aus Essen), erzählt „mit viel Drive und Witz“ eine persönliche Geschichte – die einer deutsch-türkischen Künstlerfamilie in Deutschland. Familieninterne und gesellschaftliche Konflikte werden amüsant aufgezeigt. Der Festivalbeitrag ist in einer Inszenierung des Theaters Bremen (Regie: Frank Abt) zu sehen.

„Theater ist ein wichtiger Denkraum“

Sarah Kilter, die jüngste der Autorinnen (geb. 1994), hat mit „White Passing“ ein autobiografisches Stück über ihre eigene Identität, das Migrantische und die Scheinheiligkeit ihrer deutschen Heimat geschrieben. Das Schauspiel Leipzig hat es auf der Bühne umgesetzt in der Regie von Thirza Bruncken. Die siebte Nominierte ist schließlich Teresa Dopler mit „Monte Rosa“. Das Stück spielt in den Alpen, es geht aber nicht um Alpinismus oder Umweltschutz, sondern um Empathielosigkeit und Egomanie der Menschen. Inszenierung: Landestheater Niederösterreich, Regie: Matthias Rippert.

Szene aus „Oma Monika – was war?“ von Milan Gather. Das Stück zählt zu den Festivalbeiträgen in Mülheim.
Szene aus „Oma Monika – was war?“ von Milan Gather. Das Stück zählt zu den Festivalbeiträgen in Mülheim. © Mülheimer Theatertage | Alex Wunsch

Die Landesministerin Isabell Pfeifer-Poensgen erklärte anlässlich der Bekanntgabe der Nominierten: „Theater ist ein wichtiger Denkraum, ein Ort für den pluralistischen Diskurs.“ Dr. Daniela Grobe, Kulturdezernentin in Mülheim, dankte dafür, dass der Bund die finanzielle Förderung für die Stücke auf 200.000 Euro aufgestockt habe und das Land NRW weiterhin 350.000 Euro zuschieße. Das ermögliche es, das hochkarätige Festival mit seiner so großen Reichweite durchzuführen.

Fünf von 35 Kinder-Stücken ausgewählt

Auch die Beiträge für die Kinder-Stücke 2022 wurden am Mittwoch bekannt gegeben. Eine „wunderbare Auswahl“ habe auch das Gremium für die Kinder-Stücke 2022 vorgefunden, so dessen Sprecherin Theresia Walser. Aus 35 ganz verschiedenen Uraufführungen suchten die Experten fünf Festivalbeiträge heraus. Was im Mai in Mülheim gezeigt wird:

„Zeugs“ von Raoul Biltgen in der Inszenierung der Plaisiranstalt/Dschungel Wien berichtet pointiert komisch davon, dass Spielzeuge in der Nacht, wenn alle schlafen, gegen ihre Rolle aufbegehren. „Die seltsame und unglaubliche Geschichte des Telemachos“ erzählt dagegen Felix Ensslin (mit Galia De Backer und Ninon Perez), das Agora-Theater St. Vith hat den Stoff auf die Bühne gebracht. Es geht um eine missglückte Vater-Sohn-Beziehung.

Die Lust, einfach mal anders zu sein

Milan Gather hat mit „Oma Monika – was war?“ eine berührende, oft auch surreale Story über einen Jungen und seine vergessliche Oma verfasst. Gemeinsam spielen sie die Ereignisse ihres bisherigen gemeinsamen Lebens nach (Junges Ensemble Stuttgart). Von Sergej Gößner stammt „Der fabelhafte Die“ (Inszenierung: Junges Theater Konstanz). Das Stück erzählt im Kontext von Varieté und Zirkus von der Lust, einmal anders zu sein, als man ist.

Der fünfte Beitrag ist „Als die Welt rückwärts gehen lernte“ von Lena Gorelik (Inszenierung: Pathos-Theater München). Es ist ein Gedankenspiel darüber, wie es wäre, wenn alles auf dem Kopf stünde – wenn man sich beispielsweise mit Nutella die Zähne putzen oder die Schuhe am Hund knabbern würden.