Essen. Donna Leons 31. Brunetti-Krimi spielt in der Corona-Pandemie. Weniger Touristen, weniger Kriminelle in Venedig und Zeit für private Ermittlungen.

Commissario Brunetti ist „vollständig“ geimpft. So viel schon mal vorneweg. Und damit wäre auch klar, dass in seinem nunmehr 31. Fall, der jetzt unter dem Titel „Milde Gaben“ erscheint, die Pandemie in Venedig angekommen ist. Restaurants bleiben geschlossen. Schaufenster verstauben. Geschäfte melden aufgrund der ausbleibenden Touristen Konkurs an. Sieht man von den Betrugsfällen mal ab, bei denen unberechtigterweise Corona-Hilfen abgegriffen werden, nehmen selbst die Straftaten ab in der Serenissima. Der Commissario hat also viel Zeit, um für seine alte Bekannte Elisabetta Foscarini einen Freundschaftsdienst zu erledigen.

Viele Jahre hat er sie nicht gesehen. Als er ein Kind war, lebte seine arme Familie in Castello umsonst zur Untermiete bei den wohlhabenden Foscarinis. Elisabetta war fünf oder sechs Jahre älter als er. Mittlerweile ist sie mit dem angesehenen Geschäftsmann Bruno del Balzo verheiratet, der eine wohltätige Stiftung gegründet hat und damit ein Krankenhaus in Belize unterstützt. Jetzt steht Elisabetta auf der Questura vor Brunetti und klagt ihm ihr Leid, weil sie glaubt, ihre Tochter Flora sei in Gefahr. „Ihr Mann hat etwas gesagt, das sie das Schlimmste befürchten lässt.“ Mehr aber will dieser Enrico Fenzo nicht verlauten lassen. Er erklärt, er habe Ärger auf der Arbeit und wolle nicht darüber sprechen. Hat es etwas mit seiner Tätigkeit als Buchhalter zu tun? Damit, dass er eine Zeit lang für die Stiftung seines Schwiegervaters die Finanzen erledigte? Mit Griffoni und Vianello geht Brunetti die Ermittlungen an – eher privat, nicht als offizieller Fall, der in die Akten eingeht.

Donna Leon setzt Venedig gut ins Bild

Anfangs nimmt Brunetti die Sache nicht ganz ernst. Sieht sie als „Stoff für eine Seifenoper“ zwischen zwei Eheleuten. Als dann aber in Floras Tierarztpraxis eingebrochen wird, kommen die Dinge ins Rollen. Bald ist der Commissario sich nicht mehr so sicher, ob seine Bekannte Elisabetta es wirklich gut mit der Tochter meint. Hat sie vielleicht etwas ganz anderes im Sinn?

Wie immer in den Krimis der 1942 in Montclair/ New Jersey geborenen Donna Leon geht es weniger um Verbrechen als vielmehr darum, Venedig gut ins Bild zu setzen und die dort lebenden Menschen zu charakterisieren. Als Donna Leon 23 war fragte eine Freundin sie, ob sie nicht nach Rom mitkommen wolle, um dort zu studieren. Seitdem liebt sie Italien und die Italiener, diese, wie sie sie nennt, „archaischen Lebenskünstler“. Länger als 30 Jahre lebte die Amerikanerin in Venedig und unterrichtete englische Literatur in Vicenza, bevor sie 2015 wegen der vielen Touristen floh und sich in Graubünden ein Haus kaufte.

Commissario Brunetti sehnt sich nach den Touristen zurück

Langsam nur kommt der neue Fall ihres in Deutschland auch durch die beliebte Fernsehserie bekannten Brunetti in die Gänge. Am Anfang sieht es so aus, als ob es sich nicht mal um einen richtigen Fall handelt. Und als dann endlich klar wird, worum es eigentlich geht, ist der Schuldige auch schnell gefunden. Liebhabern von klassischen Krimis, die mit miträtseln und mitraten wollen, ist das neue Buch also eher nicht zu empfehlen. Die Fangemeinde aber wird das nicht stören. Sie wird weiter gerne mit ihrem Commissario durch Venedig schweifen, mit ihm über Ciceros „Reden gegen Verres“ und Artemidors „Traumdeutung“ sinnieren und in der unvergänglichen Schönheit der türkis schimmernden Lagune schwelgen.

Donna Leon veröffentlicht im August Autobiografisches: „Ein Leben in Geschichten“

Von der Corona-Pandemie und deren Wohlfahrtsbetrug hat sich Donna Leon inspirieren lassen zu ihrer ganz eigenen Geschichte über Gier und Gutmenschen. Einmal mehr prallen in ihrem aktuellen Roman die unterschiedlichen Schichten aufeinander, und die Reichen entpuppen sich nicht unbedingt als die moralisch gefestigteren Menschen. Am Ende sehnt sich Commissario Brunetti beinahe nach den sonst eher lästigen Touristen. So ruhig wie im aktuellen Buch hält es ja keiner aus.

Donna Leon selbst übrigens hat die Zeit während des Lockdowns natürlich zum Schreiben genutzt. Schon im August erscheint mit „Ein Leben in Geschichten“ ein neues Buch mit autobiografischen Geschichten der Bestsellerautorin, die am 28. September ihren 80. Geburtstag feiert.

Donna Leon: Milde Gaben. Commissario Brunettis einunddreißigster Fall. Diogenes, 352 Seiten, 25 Euro.