Essen. Zum 30. Mal lässt die gebürtige Amerikanerin Donna Leon Commissario Brunetti in Venedig ermitteln: „Flüchtiges Begehren“ heißt der neue Fall.
Aller guten Dinge sind – dreißig? Die amerikanische Krimiautorin Donna Leon lässt in ihrem Jubiläumsfall ein „Flüchtiges Begehren“ aufflackern, jedenfalls im Titel. Wer auf Leidenschaftliches hofft, wird enttäuscht: Auch diesmal schlendert Commissario Brunetti der Lösung des Falls so unbeirrt wie gemächlich entgegen. So richtig aufregen kann ihn nur, wenn sein Mittagessen mangels Zeit und Muße aus nichts als einem Tramezzino besteht, so gut belegt dieses auch sein möge: „Wo sollte es hinführen, wenn wir ein Sandwich als Nahrung akzeptierten?“
Der Verfall der Kultur, dies ist das eigentliche Verbrechen in Donna Leons Krimis
Der Verfall der Kultur, dies ist das eigentliche Verbrechen, dem Donna Leon in jedem ihrer Bücher auf der Spur ist. Diesmal geißelt sie nicht Venedigs Touristenströme (die Beschreibung der menschenleeren Lagunenstadt ist eine knappe literarische Verbeugung vor der Pandemie – die aber weiter keine Rolle spielt), aber immer noch und immer wieder das italienische Nord-Süd-Gefälle und die Vorurteile, die einer Neapolitanerin wie Griffoni entgegenschlagen, zumal, wenn sie mit einem Landsmann im heimischen Dialekt spricht. Selbst Brunetti ist nicht davor gefeit, in Griffoni in diesem Moment vulgäre, ungebildete Züge auszumachen. Wie er sich – und Griffoni – peinlich berührt eingestehen muss: „War es das, womit Schwarze und Juden und Schwule zu leben hatten?“
Der eigentliche Krimifall: Zwei junge Amerikanerinnen werden verletzt und bewusstlos auf dem Steg vor dem Ospedale Civile abgelegt, die Überwachungskamera zeigt ein Boot und zwei junge Männer. Die sind bald aufgespürt: Vio arbeitet als Bootsfahrer für seinen Onkel, gemeinsam mit seinem Freund Duso gabelt er samstags auf dem Campo Santa Margharita gern Mädchen auf, um eine flotte Fahrt gen Lagune zu unternehmen, um dort, wo Venedig Wellen schlägt, zu picknicken, zu trinken.
Eine mäandernde, ausufernde Geschichte des gesamtgesellschaftlichen Moralverfalls
Dass sie die Amerikanerinnen so übel zugerichtet auf dem Steg abgeladen haben? Ein Bootsunfall, hinter dem aber doch mehr zu stecken scheint. Also sind zwar nicht diese beiden Frauen Opfer männlicher Gewalt geworden – viele andere jedoch schon. Mehr sei nicht verraten über diese mäandernde, ausufernde Geschichte des gesamtgesellschaftlichen Moralverfalls.
Auch Vio ist bei dem Unfall übel zugerichtet worden, klappt beim Verhör buchstäblich zusammen. Es ist ein schöner Seitenhieb Leons auf italischen Machismo und ein überkommenes Männerbild, das Vio und sein Freund Duso das Mädchenaufgabeln nur der Tarnung halber vollführen, um den Sprüchen über ihre allzu enge Freundschaft zu entgehen.
Gerüchte! Vorurteile! Da blättert Brunetti doch gleich mal in der neuen Tacitus-Übersetzung nach, die Ehefrau Paola ihm so freundlich aufs Nachttischchen gelegt hat. Tacitus also singt das Hohelied der „schlichten und unentstellten Wahrheit“, und Brunetti schlägt den Bogen: „War Tacitus nicht nur Historiker, sondern auch Prophet, dass er die Folgen von Fernsehen und Social Media so präzise vorausahnen konnte?“ Dieses Nebeneinander von klassischer Bildung und Gegenwartsbeobachtung versöhnt Donna Leons Leser noch mit jedem allzu plätschernden Plot – auch im dreißigsten Jahr.