Essen. „Das achte Leben“, der Jahrhundertroman von Nino Haratischwili, kommt in Essen trotz vier Stunden Länge kurzweilig und eindringlich auf die Bühne

Und am Ende leuchtet der einst strahlende rote Stern der Kommunisten in den Farben der Ukraine: Das Grillo-Theater Essen setzt zum Finale eines furiosen vierstündigen Parforceritts durch den Jahrhundertroman „Das achte Leben“ ein überraschendes emotionales Signal. Auch wenn die Dramatisierung des 1200-Seiten-Bestsellers von Autorin Nino Haratischwili über den Konflikt zwischen Russland und Georgien längst die Parallelen zum aktuellen Ukraine-Krieg spürbar gemacht hatte: Der große blau-gelbe Stern leuchtete plakativ für Frieden und Freiheit.

Das Premierenpublikum feierte die eindrucksvolle, schauspielerisch hochkarätige und trotz der Länge kurzweilige Inszenierung „Das achte Leben (für Brilka)“ von Elina Finkel mit lang anhaltendem Jubel. Die Zuschauer tauchten dank klar strukturierter Erzählweise und geradliniger Inszenierung tief ein in eine facettenreiche Familiengeschichte, die acht außergewöhnliche Frauenschicksale mit den politischen Katastrophen ihrer Zeit kunstvoll verwebt.

Ines Krug überragend als Tochter Stasia

Die karge, düster-abgewrackte Einheitsbühne (Norbert Bellen) lässt dem ausgezeichneten Ensemble Raum, die opulente, in Georgien verortete Saga eindrücklich zu entfalten. Noch bevor sich der Vorhang hebt, dokumentiert ein Film Militäraufmärsche und rollende Panzer, dahinter tanzt unbeschwert ein Mädchen.

Das Spiel beginnt mit einem blechernen Brummkreisel, der, einmal in Bewegung gesetzt, die Geister der Vergangenheit wieder heraufbeschwört. Da sind der georgische Schokoladenfabrikant und seine Tochter Stasia, von Ines Krug überragend in ihrer leidvollen Entwicklung vom tanzenden Mädchen bis hin zur charakterstarken Greisin dargestellt. Stasia durchleidet alle privaten und politischen Konflikte, die der Kampf der Systeme zwischen einem um Unabhängigkeit ringenden Georgien und der diktatorischen Sowjetunion mit sich bringt. Als Erzählerin hält Stasias Urenkelin Niza, die Trixi Strobel mit unaufgeregter Distanz am Mikrofon kommentierend gibt, die Fäden geschickt zusammen. Sie gibt ihr Wissen und ihre Erkenntnis an die jüngste Generation weiter, an Brilka.

„Das achte Leben“ von Nino Haratischwili ist voller Liebe und Verrat, Treue und Lüge

Stasias Kinder Kitty (Janina Sachau) und Kostja (Stefan Migge) verkörpern berührend und erschreckend intensiv den lebenslangen Konflikt zwischen mutigem Widerstand und brutaler Systemtreue. Stasias Schwester Christine (Floriane Kleinpaß) nutzt verhängnisvoll ihr Verhältnis zum mächtigen „kleinen großen Mann“. Sie alle, auf welcher Seite auch immer sie stehen, zahlen einen hohen Preis für Liebe und Verrat, für Treue, Wankelmut, Verstrickung und Lüge.

Elina Finkel, eine gebürtige Ukrainerin, wählt für diese gigantische Saga mal poetische, mal wütende, mal brutale Bilder, mal begleitet von Kriegstrommelwirbeln, mal von der Arie „Casta Diva“ oder einem melancholischen georgischen Lied. Und zeigt, dass diese Geschichte noch immer weitergeht: Am Ende tanzt wieder ein Mädchen, fröhlich, kraftvoll, hoffnungsfroh. Diesmal trägt es ein blau-gelbes Shirt.