Essen. Das in Georgien verortete Familienepos „Das achte Leben“ hat Premiere am Schauspiel Essen. Warum historische Parallelen zur Ukraine nahe liegen.

„Geschichte anhand von Familienstrukturen zu erzählen, macht sie erlebbar“, sagt Elina Finkel. Das hat die Regisseurin bereits mit dem Verdrängen jüdischer Geschichte in „Der Stein“ im Grillo-Theater eindrucksvoll gezeigt. Jetzt bringt sie Nino Haratischwilis in Georgien verortetes Jahrhundertepos „Das achte Leben (Für Brilka)“ auf die Essener Bühne mit starken Frauenschicksalen, die den Aufstieg und Fall der Sowjetunion begleiten. Bei der Recherche zum Stück war ihr der Bezug zur Ukraine schnell klar: „Es gibt so viele Berührungspunkte“, betont sie angesichts des aktuellen kriegerischen Überfalls Russlands.

Sie wurde 1970 in der Ukraine geboren, ist mit acht Jahren emigriert und 1983 in Deutschland gelandet. Schauspielstudium und Regieassistenz haben sie ans Theater Bremen gebracht. Die Herkunft habe für sie keine Rolle gespielt, meint sie. Nach über 50 Inszenierungen zwischen Rostock, Aachen und Salzburg und Übersetzungen russischer Dramatik sieht es anders aus. Sie hat mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges Theatermacher mit einer privaten Spendenaktion unterstützt, will ihre Muttersprache lernen und sich der Literatur ihrer Heimat widmen. Als Teil des neuen Leitungsteams in am Theater in Senftenberg „kann ich das mit einem Stückauftrag auch umsetzen“.

Jahrhundertepos wird zu vierstündigem Kaleidoskop

Die Regiearbeit zu „Das achte Leben“ fügt sich perfekt in ihre Vita. Mit der Uraufführung am Thalia-Theater in Hamburg hat sie den 2014 erschienenen Roman und die Bühnenfassung von Emilia Heinrich, Julia Lochte und Jette Steckel entdeckt. „Die ist so reich und funktioniert so gut“, dass sie in einer gekürzten, rund vierstündigen Version in Essen zu sehen ist. „Es ist ein Kaleidoskop, ein kurzweiliger und unterhaltsamer Abend. Aber man braucht Zeit, um ein Jahrhundert auf die Bühne zu bringen“, so Elina Finkel. Ganz zu schweigen von den „tollen, starken Frauen“, die hier aufleben.

Mit Stasia, Tochter eines Schokoladenfabrikanten, beginnt die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Sowjetunion. Szene mit Rezo Tschchikwischwili, Ines Krug und Philipp Noack (v.l.) in „Das achte Leben (Für Brilka)
Mit Stasia, Tochter eines Schokoladenfabrikanten, beginnt die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Sowjetunion. Szene mit Rezo Tschchikwischwili, Ines Krug und Philipp Noack (v.l.) in „Das achte Leben (Für Brilka)" am Grillo-Theater. © Unbekannt | Bettina Stoess

Mit Stasia, Tochter eines Schokoladenfabrikanten, beginnt die Familiensaga über sechs Generationen, die von den Revolutionen und Kriegen des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart reicht. Sie beleuchtet, was es bedeutet, im Bannkreis des Geheimdienstes zu sein, Folter zu erleiden, verfolgt zu werden, Widerstand zu leisten und alles zu verlieren. „Eine Diktatur macht in jeder Generation unglücklich. Sie wird weitergetragen und endet nicht“, erklärt Elina Finkel. Auch nicht nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der UdSSR, denn in Georgien herrscht Bürgerkrieg. 2005 endet diese aufwühlende Geschichte, die Niza, Stasias Urenkelin, im Berliner Exil ihrer Nichte Brilka erzählt.

Essener Grillo-Theater verwandelt sich in verlassene Schokoladenfabrik

In der verlassenen Schokoladenfabrik von Bühnenbildner Norbert Bellen, wo ein geheimes Kakao-Rezept verheißungsvollen Genuss und Verderben symbolisiert, finden sich die Figuren in Elina Finkels Inszenierung ein. Dabei hat sie manche Bestätigung des georgischen Schauspielers Rezo Tschchikwischwili erfahren und ihn mit einer zusätzlichen Rolle als Fabrikchef bedacht. Video-Einblendungen zeigen, in welcher Zeit sie sich befinden. Aber auch die Mode dient der Orientierung. Sie singen georgische Lieder und lassen teilhaben an ihren Träumen und Problemen.

„Vielleicht gibt es einen Hinweis auf den Ukraine-Krieg an diesem Abend“, sagt sie. Doch die Parallelen zur ukrainischen Geschichte drängen sich ihrer Meinung nach ohnehin auf: „Beides sind unabhängige Länder. Beide haben Gewalterfahrungen mit Russland gemacht. Dieses Blutregime ist 100 Jahre alt. Es geht um Krieg, Säuberungen, Verfolgung Andersdenkender und Propaganda. Es ist unfassbar, wie sich alles wiederholt. Es wird nicht aufhören ohne eine gemeinsame Kraftanstrengung.“