Bergen. Norwegen ist Gastland der Frankfurter Buchmesse – und das Reich der Autofiktionen. Tomas Espedal über die Einheit von Leben und Schreiben.

Den Regen nennt Tomas Espedal „gefängnisartig“, das Leben in seiner norwegischen Heimatstadt Bergen ein „feuchtes Eingesperrtsein“. Und doch hat er dieser Stadt, die einen „krank und lebensmüde“ mache, ein zehnbändiges Schreibprojekt gewidmet, hat die Schriftstellerszene in Bergen porträtiert, hat gemeinsam Karl-Ove Knausgård und einer Gruppe von Studenten die norwegische Literatur um die radikale Idee der Autofiktion bereichert. Mit Britta Heidemann sprach der 57-Jährige darüber, wie es ist, wenn Leben und Schreiben verschwimmen.

Gab es einen Moment in Ihrem Leben, in dem Sie sich für die Schriftstellerkarriere entschieden haben?

Meine Mutter war Sekretärin. Wenn Sie ein Kind früh vor ein Klavier setzen, entwickelt es möglicherweise Talent. Bei mir war es die Schreibmaschine, mit der ich früh experimentierte. Ich war sechs Jahre alt, als ich von meiner Mutter meine erste Maschine bekam. Mit 16 schrieb ich meinen ersten Roman. Ich war ein isoliertes Kind, ich wollte auch alleine sein. Die Schreibmaschine wurde zu meinem Instrument. Ich schreibe noch immer auf einer solchen Maschine. Aber dann waren es mehrere Entscheidungen, die ich treffen musste. Mit 18 schrieb ich Gedichte, immer noch unveröffentlicht. Ich war gut in der Schule und musste die Entscheidung treffen, kein Richter, kein Arzt zu werden. Kein Geld zu verdienen. Keine Freundin zu haben. Nicht Tennis zu spielen. Meine Eltern wurden immer besorgter… Als Schriftsteller sagt man Nein zu sehr vielen Dingen.

Es gab einen Moment in ihrem Schriftstellerdasein, in dem Sie Ja sagten – und sich ganz der Erforschung Ihrer eigenen Person zuwandten.

Ich suche mir meine Themen nicht aus, sie suchen mich aus. Meine ersten sechs Bücher waren ganz klassische Romane. Es ging nicht um mich. Ich lebte damals in Kopenhagen. Dann kam ich zurück nach Bergen und wurde Lehrer an der Schreibakademie. Ich entdeckte, dass meine Schüler besser waren als ich! Ich war schockiert. Die waren richtig gut. In Kopenhagen hatte ich immer noch ein sehr isoliertes Schriftstellerleben geführt, aber nun begann sich in Bergen eine Gruppe zu formen. Wir trafen uns, diskutierten unsere Texte. Karl-Ove Knausgård gehörte damals zu dieser Gruppe. Wir sprachen viel über norwegische Literatur, wie man sie erneuern könnte, über einen neuen Realismus in der Literatur. Wir lasen Balzac, wie er Paris beschrieb, die Gesellschaft. Wir wollten dasselbe machen – aber reale Namen verwenden. Dieses kleine Detail veränderte alles. Damals begann ich mein Projekt: Zehn Romane, die eine Serie werden sollten – man kann sie natürlich auch einzeln lesen. Auch andere aus der Gruppe, nicht nur Karl-Ove Knausgård und ich, arbeiteten an ähnlichen Projekten. Für mich ist das Schreiben seitdem etwas Kollektives. Es lebt von der Energie der Gruppe.

Wie hat sich Ihr Leben verändert dadurch, dass Sie darüber schreiben?

Für mich ist dieses Schreiben eine Lebensart. Die Welt antwortet darauf, in gewisser Weise. Ich habe mich mit Menschen gestritten, auch mit meiner Familie. In der Gruppe haben wir damals darüber gesprochen, was wäre denn, wenn Literatur unbequem würde? Nicht nur Freude bereiten würde beim Lesen? Sondern bis in die Realität hinein provozieren würde? Rache nehmen würde? Man bekommt so etwas zurück, man muss damit irgendwie umgehen. Ich hatte die Polizei im Haus, ich war im Gefängnis, ich wurde angegriffen – das ist wieder ein Roman für sich. Diese Art von Literatur ist nicht nur Literatur, das ist das Radikale. Karl-Ove Knausgard verschwand eines Tages einfach aus Bergen, aus Gründen.

Wie hat Sie diese Erfahrung verändert?

Ich weiß ja nicht, wie ich heute ohne diese Erfahrungen wäre – aber ja, da passiert etwas in einem. Man wird ein Schriftsteller. Vielleicht kann man es so ausdrücken. Vor einigen Jahren starb meine Frau. Sie entschied sich, dass sie zu Hause sterben wollte, ich habe sie gepflegt. Es hat sehr lange gedauert, bis sie starb. Ich saß oft im Zimmer nebenan und habe darüber geschrieben, was mit ihr, mit uns gerade passierte. Freunde fragten mich: Wie kannst du so etwas tun! Ich antwortete: Wenn du nicht darüber schreiben kannst, bist du kein Schriftsteller. Wenn Munch nicht seine sterbende Schwester gemalt hätte, wäre er kein Künstler. Jedes Gemälde, das Munch malte, hat ihn ein Stück seines Lebens gekostet.

Hat die Gewissheit, dass Sie über Ihr Leben schreiben, Ihr Leben verändert? Haben Sie Dinge getan, die Sie sonst nicht getan hätten?

Eines Tages meinte mein Verleger, du wanderst so viel – schreib doch mal über das Wandern! Ich antwortete, das ist eine gute Idee, aber ich mag keine gute Ideen, es werden selten gute Bücher daraus. Doch als meine Frau gestorben war, und meine beiden Töchter waren erst drei und zehn Jahren alt, da war ich sozusagen unfähig, mich zu bewegen: weil ich mich um meine Kinder kümmern musste. Da begann ich, über das Wandern zu schreiben. Ich hatte meine Notizbücher, meine Aufzeichnungen.

Sie haben die Serie der zehn Bücher beendet?

Ja, genau. Es ist gut, das sagen zu können. Vielleicht werden Schriftsteller einige der Techniken weiterführen, die ich benutzt habe. Aber ich selbst habe damit abgeschlossen.

Sie waren selbst Lehrer für junge Schreibende – was ist Ihre Empfehlung für sie?

Jeder muss für sich herausfinden, was sein Stil ist. Als ich selbst in den 70er Jahren an der Uni studiert habe, waren alle Schriftsteller politisch. Alle waren Marxisten! (lacht) Aber man kann nicht ewig auf diese Weise weiterschreiben. In den 80er Jahren gab es die experimentelle Phase, aber diese Literatur fand nur eine sehr kleine Leserschaft. Dann kamen wir. Aber man kann niemanden raten, das würde jede Kreativität ersticken.

Welchen Weg wird Ihre Kreativität nun nehmen? Was wird Ihr nächstes Projekt?

In der vergangenen Woche war ich in Island bei Freunden. Um zwei Uhr nachts, ich war sehr betrunken, ging ich auf mein Zimmer mit einer weiteren Flasche Wein. Und plötzlich! (schnipst) Um vier Uhr morgens wusste ich, was ich als nächstes schreiben werden. Verraten werde ich es noch nicht, die Idee muss noch reifen. Aber was mich sehr freut: Ich habe in den vergangenen 30 Jahren 16 Bücher veröffentlicht, und es geht immer noch weiter. Das beruhigt mich sehr.

Norwegen ist Gastland der Frankfurter Buchmesse (16.-20.10.), Tomas Espedal gehört zur Delegation. Seine Werke erscheinen auf Deutsch bei Matthes und Seitz, zuletzt der Roman „Bergeners“ (156 S., 20 €).