Wie sieht der deutsche Osten den „armen“ Westen? Gregor Sander nahm Gelsenkirchen unter die Lupe. Ein Interview über den Roman „Lenin auf Schalke“

Gelsenkirchen. Ein Ossi dreht den Spieß um und weiß, wo im Westen das Gegenteil blühender Landschaften siedelt: in Gelsenkirchen. Gregor Sander, geboren 1968 in Schwerin, hat aus seiner Visite einen Roman gemacht. Lars von der Gönna sprach mit dem Schriftsteller.

Ihr Buch hat mir mindestens eine zentrale Erkenntnis geschenkt. Wir Wessis nehmen seit Jahrzehnten die DDR und ihr Nachfolgeterritorium unter die Lupe. Umgekehrt ist das ziemlich selten. Woran liegt das?

Offenbar war dieser Perspektivwechsel in 30 Jahren von beiden Seiten nicht gewollt oder gewünscht. Niemand ist auf diese Idee gekommen. Weder, dass wir Ostdeutsche mal gesagt haben „So jetzt geht mal einer von uns über die Elbe“ oder andersrum im Westen mal einer gefragt hätte „Wie findet Ihr uns eigentlich, wo wir Euch die ganze Zeit versuchen zu analysieren?“

Oder glaubte der Osten den Westen schon vor dem Mauerfall besser zu kennen?

Das spielt sicherlich eine Rolle. Jedenfalls besser zu kennen als umgekehrt. Wir kannten die Bundesliga, wir kannten Adolf Tegtmeier. Wer Fernsehen hatte, war gut informiert. Das führte zu einer gewissen Schizophrenie, wir lebten tagsüber in der DDR und saßen abends vor der Tagesschau...

Ihr erzählendes Ich bricht aus einer von Kumpels angefachten Laune Richtung Emscher auf, auch von „Wiedergutmachung“ ist die Rede. Was ist die „echte“ Geschichte zum Buch?

Am Anfang stand schon der Gedanke, wie man den Blick einfach mal umdreht. Ich bin mit einer Westdeutschen verheiratet, aber das Ruhrgebiet war ein weißer Fleck. Es interessierte mich als Region, die weder den Osten noch das alte Westdeutschland interessiert. Dann fiel mir Gelsenkirchen als ärmste Stadt Deutschlands auf und damit der „Osten im Westen“: für beide Seiten die despektierliche Umschreibung von „abgehängt sein“. Aber als sie dann in Gelsenkirchen-Horst den Lenin aufgestellt haben, war endgültig klar: Da fahre ich hin.

Wie lange waren Sie hier?

Insgesamt drei Monate. Erst in einer Pension in Bismarck, länger auf der Ückendorfer Straße.

In Ihrem Roman nutzen sie für eine Figur das Wort „bergbauinfiziert“. Wie kommt es, dass wir hier so an etwas hängen, das vorbei ist?

Die Region würde ja ohne Kohle eher wie das Münsterland aussehen. Bis vor 50 Jahren haben Menschen in Gelsenkirchen vor allem ihre Zelte aufgeschlagen weil es hier Arbeit gab, Kohle, Stahl. Man kam ja nicht wegen der Stadt als Schönheit. Heimat finden, hieß auf Kohle zu bauen -- und das wirkt bis heute nach, obwohl alles dicht ist. Natürlich wirkt das von außen bizarr.

In Ihrem Roman sagt eine „Eingeborene“ nach einer Stadtrundfahrt zum Touristenführer „So schön, wie Sie das zeigen, ist Gelsenkirchen gar nicht!“. Es ist nicht schön, aber man bleibt trotzdem gern hier. Ist das jetzt Lethargie oder Liebe?

Beides. Lethargie, aber auf jeden Fall Liebe. Vielleicht schweißt es auch zusammen, wenn alle auf einen runtergucken.

Zur Industriekultur: In Ihrem Buch schreiben Sie, hier verfalle romantisch, was nach der DDR ganz einfach weggerissen worden sei...

Es fällt einem Gast einfach auf, wie viel es davon noch gibt. Ich hatte jetzt hier eine Lesung und hab’ den Witz gewagt dass es über 100 Abraumhalden gibt, ob das denn nicht vielleicht ein bisschen viele wären und wer die alle hochlaufen sollte. Da ist ein Herr richtig an die Decke gegangen. Der war aus Gelsenkirchen. Anderes hat enormen Charme: So was wie die Siedlung um Flöz Dickebank wäre in Berlin reine Magie, die Gründerzeithäuser, die hier leer stehen, wären dort in Minuten vermietet.

Mal ehrlich: Ist die Stadt so schlimm wie die Statistik sagt?

Ich fühl’ mich nicht zum Ratgeber berufen. Aber die Situation ist schon dramatisch. Die Arbeit, die die offizielle Seite leistet, kommt mir wie eine Sisyphusarbeit vor.

Sie haben hier viel gesehen, was hat Sie besonders beeindruckt?

Die Einblicke in die türkische Community, allen voran die „Kofferkinder“ haben mich schon sehr bewegt. Einfach originell: die Trinkhallentradition. Und echt überwältigend war der Besuch auf dem Friedhof: das Schalker Fan-Feld. Wenn sich ein Autor so einen Ort ausdenken würde, an dem es keine Bank gibt, damit man respektvoll stehen bleibt, da würde man sagen: „Das is zu dicke!“. Aber das gibt’s – in Gelsenkirchen.

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DER ROMAN

In „Lenin auf Schalke“ (Penguin, 186 S., 20€) schickt Gregor Sander seinen Ich-Erzähler auf eine Erkundungsreise ins Revier. Er trifft Gabi und Ömer, wird zum Plausch in die Villa eines einstigen Stadtdirektors gebeten, gibt sich bei der Tourist-Info als ahnungsloser Gast aus… Ein Buch, in dem wir viele Klischees antreffen – wissend, dass sie immer noch viele reale Vorbilder haben. LvG