Gelsenkirchen. . Die Armutsstudie der Bertelsmann-Stiftung führt Gelsenkirchen als Spitzenreiter. Die Situation wird verschärft durch Arbeitslosigkeit und Zuzug.
Kein Entrinnen aus der Armutsfalle: Trotz über einige Jahre anhaltender guter Konjunktur ist in dieser Stadt jeder Vierte auf Stütze angewiesen. Das sind mehr als 50.000 Menschen. Das geht aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung hervor. Gelsenkirchen rangiert damit landesweit auf der letzten Position. Schlusslicht – wieder einmal. Da ist es wenig tröstlich, das Nachbarstädte wie Essen, Dortmund, Duisburg und Herne kaum besser abschneiden – dort trifft Armut jeden Fünften.
Der Erhebung liegt der Anteil Menschen zugrunde, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) beziehen, hier beträgt die Quote 24,8 Prozent.
Drei Faktoren sind maßgeblich für die Armut
Drei Faktoren hat die Studie ausgemacht, die maßgeblich für Armut sind: Erwerbslosigkeit, hohe Mietkosten sowie Zuwanderung. Im Kern stimmt Gelsenkirchens Sozialdezernent Luidger Wolterhoff der Analyse zu. Zugleich nennt er aber noch Umstände, die die Lage hier um ein Vielfaches dramatischer gemacht haben. Vergleichbar mit Pech und Schwefel, die ebenso hartnäckig und zäh an einem kleben. Luidger Wolterhoff glaubt daher auch nicht, dass Verbesserungen „so schnell möglich sind, sondern erwartet deutlich sichtbare Erfolge erst in der nächsten Generation.“
Die Langzeitarbeitslosigkeit als Folge des schleppenden Strukturwandels ist das Eine, was einen Befreiungsschlag zäh verhindert. Erst Anfang 2019 ist der soziale Arbeitsmarkt gestartet, nach jahrelangem politischen Ringen. Bis Jahresende sollen 400 Langzeitarbeitslose wieder in Lohn und Brot sein, aktuell sind es um die 160. Ein Anfang, ja, aber bei einer Arbeitslosenquote von 12,5 Prozent in einer Stadt mit mehr als 250.000 Einwohnern „ein absehbar sehr langer Weg“.
Verbesserung dank großer Bildungsangebote
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Ähnlich schätzt Luidger Wolterhoff die Verbesserungen ein, die mit „den großen Bildungsangeboten einhergehen“, die die Verwaltung vorantreibt, um die aufwachsende Generation vor der Armutsfalle zu bewahren. Stichwort Übergang Schule und Beruf beispielsweise, forcierter Kita-Ausbau, Lernende Stadt und vieles mehr – zum Teil vielbeachtet, nachgeahmt und Unesco-preisgekrönt. „Auch hier werden sich die positiven Auswirkungen erst in einigen Jahren zeigen“, sagt der Sozialdezernent, warum Gelsenkirchen hartnäckig die rote Laterne trägt.
Zuwanderung erschwert die Lage
Mieten, Zuwanderung und auch in dem Zusammenhang Flüchtlinge: Spätestens hier zeigt sich, dass sich aus einem vermeintlichen Pfund, mit dem es sich wuchern ließe, schnell auch eine Last im Übermaß werden kann. „Gelsenkirchen hat mehr als 5000 freie bezahlbare und zumeist auch wertige Wohnungen“, sagt Wolterhoff. Durchschnittlicher Mietpreis pro Quadratmeter laut Branchenportal Immowelt: 5,50 Euro (für 80 m2), Bochum kommt auf 6,90 Euro. Vergleichsweise ist Wohnen in Gelsenkirchen also preiswert.
Angesichts hoher Arbeitslosigkeit, massivem Zuzug aus Südosteuropa und überproportionaler Aufnahme von Flüchtlingen verkehrt sich dieser Vorteil aber wieder ins Gegenteil. Denn die Versorgung dieser Menschen schlägt riesige Löcher in den Haushalt. Und treibt, weil es sich vielfach um wenig Qualifizierte handelt, die Hartz-IV-Quote in die Höhe. Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen aber, dass 2018 bereits ein gutes Drittel aller Sozialhilfeempfänger Ausländer waren. Die Menschen strömen dorthin, wo Platz ist und die Preise niedrig sind.
7000 Flüchtlinge in Gelsenkirchen
Allein rund 7000 Flüchtlinge leben laut Wolterhoff hier in Gelsenkirchen, 13.000 Euro fallen pro Kopf im Jahr an Kosten an, nur 10.000 Euro werden aber erstattet. Ganz zu schweigen davon, dass Geduldete keine Unterstützung erhalten und auf Stütze angewiesen sind. 2018 standen den städtischen Aufwendungen für die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in Höhe von 13.025.276 Euro Landeszuweisungen sowie Integrationspauschalen in Höhe von 7.171.776 Euro gegenüber. Setzt man den Beginn der Flüchtlingswelle auf das Jahr 2014 fest, so lässt sich leicht errechnen, welches Ausmaß das Finanzloch angenommen hat. Und damit letztendlich auch die Armut.
Und dabei sind die Menschenströme nach der EU-Erweiterung Ost in 2004 und 2007 nicht eingerechnet – Ende 2018 belief sich ihre Zahl hier auf 7400 (siehe Box).
Sozialdezernent Luidger Wolterhoff schließt daraus, dass es eine „immerwährende Aufgabe für uns als Stadt sein wird, für die zu sorgen, die zu uns kommen.“ Allein aber wird das aber nicht zu schaffen sein. Die komplette Übernahme der Flüchtlingskosten ist deshalb nur eine Kernforderung Gelsenkirchens und vieler anderer, ebenso von Armut betroffener (Revier-)Städte, mehr Mittel für integrative und präventive Maßnahmen sowie für wirtschaftsnahe kommunale Infrastruktur die andere.